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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt
Autoren: David Baddiel
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anderen waren entweder zu Hause und guckten fern oder säumten die Straßen entlang des Trauerzugs. London war wie ein Ort, auf den eine Neutronenbombe niedergegangen war, die Menschen tötete und Gebäude verschonte: eine Marie Celeste als Stadt. Kein Mensch war auf den Bürgersteigen, keine Autos auf den Straßen, keine Geschäfte geöffnet; Blackheath leergefegt, Bermondsey wie ausgestorben, Wapping die Bürgersteige hochgeklappt. Die einzigen Lebewesen, die er sah, waren die am hohen blauen Himmel kreisenden Vögel und die Katzen, die sich auf den Vorgartenmauern sonnten. Gelegentlich bellte ein Hund, aber immer in der Ferne; die einzigen Geräusche waren fern — Flugzeuge weit oben in der Luft und Trauerzüge viele Straßen weiter, und alles war untermalt vom vereinten Surren von zehn Millionen auf das gleiche Ereignis eingestellten Fernsehgeräten. An jedem anderen Tag, dachte er, wären zu viele verschiedene Sender eingestellt, als daß man sie als Geräusch hätte wahrnehmen können, aber heute plärrte aus allen dasselbe Glockenläuten, dasselbe Pferdegetrappel, dieselbe einzige Wehklage, derselbe unpassende Applaus, dieselben Gedichte, dieselben Gesänge und dieselben Reden. Nur die Kommentatoren waren in verschiedenen Häusern vielleicht andere, aber das war nicht zu erkennen, da sie alle im selben gedämpften, ehrfürchtigen Tone sprachen. Joe versuchte sich vorzustellen, wie es klingen würde, hörte man alle Kommentare im Chor — welch sonderbares Geräusch das zehnmillionenfache Flüstern wohl machen würde.
    Als er auf dem Rückweg durch Greenwich Village kam — wie es verwirrenderweise heißt, denn der Name wirkt wie von dem nach ihm benannten Ort stibitzt —, begegnete er einer einzigen anderen Person, einem Mann in einem Trenchcoat, seltsam an diesem brütendheißen Tag, aber, fand Joe, irgendwie zu ihrer beider subversiver Tätigkeit passend, ihrer gemeinsamen Mißachtung dieser nationalen Sperrstunde. Joe erwog, vielleicht ein paar Worte mit dem Mann zu wechseln, eine bissige Bemerkung über die Absurdität des Ganzen zu machen oder ihn zu fragen, ob er irgendeine Kneipe gesehen hätte, die offen war; er konnte wirklich einen Drink gebrauchen, denn nach dem weiten Gang in der Hitze war seine Kehle ganz trocken. Aber als Joe sich ihm näherte, guckte der Mann nach unten, und Joe sagte sich, lieber nicht, und dachte — zwar im Spaß, aber er dachte es — , vielleicht war er irgendeine Art von Geheimpolizist.
    Ehe er wieder nach Hause ging, bog er in den Greenwich Park ab und ging den Hügel in Richtung Observatorium hinauf, jenem Fleck, wo in zwei Jahren die neue Zeit begann. Wenn er über das nächste Jahrhundert nachdachte, erinnerte Joe sich oft, wie er als Kind einmal ausgerechnet hatte, wie alt er im Jahr 2000 wäre — fünfunddreißig — ein Alter, das damals außerhalb seiner Vorstellungskraft lag. Aber heute waren seine Gedanken weniger persönlich. Oben, vom Hügel aus, hatte man einen weiten, weiten Blick über London, und während Joe dastand und hinaussah, hatte er das Gefühl, die ganze Stadt dehne sich aus, sich und dieses Ereignis, das sie so zu ihrem gemacht hatte. Er meinte fast, er könne sie rufen hören, bis zum Observatorium hin, um Dianas Tod und all das dazugehörige Brimborium als das letzte große historische Ereignis dieses Jahrtausends zu feiern. Es war ein deutlicher Ton, dachte er, der Ton von bezwingender Bedeutsamkeit.
    Und dann, um zwölf Uhr, spürte er das willkommene Absinken der Stille in eine noch tiefere. Es war eine Stille, die er wiedererkannte, eine, die sich oft vor gewissen Sportereignissen über das Stadion breitet, aber selten in der ganzen Stadt, im ganzen Land gehört wird. Außerdem zwei, nicht eine Minute: ein Schweigemarathon. Als die Stille anhielt, wurde Joe ferner klar, daß diese hier noch tiefer war, als er sie je vor einem Sportereignis erlebt hatte, weil sie dort immer durch das Klingeln von Mobiltelefonen unterbrochen wird (unmittelbar gefolgt von verstohlenem Plastikgeraschel in Taschen) und außerdem von irgendwelchen unbeirrt weitergehenden Bauarbeiten. Aber heute schwiegen sogar die Hämmer für zwei Minuten. Und als Joe da stand, direkt vor dem Greenwich Observatorium, überkam ihn ein entsetzlicher und ganz untypischer Drang hinauszuschreien, irgendwas Banales, irgendwas Obszönes, so wie man es bei einer Hochzeit tun will während der Pause nach dem »Wenn einer der hier Versammelten...«. Fotze kam ihm als erstes in den Sinn,
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