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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt
Autoren: David Baddiel
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des Heiligen Georg auf seinem Schild, und jeden Weihnachtstag zwang er die ganze Familie, sich punkt drei vor dem Fernseher zu versammeln und vereint so zu tun, als erfreuten sie sich an der Monarchin endlosen Platitüden über den Commonwealth.
    Aber diesmal empfand Joe ein sonderbares Mitleid für Elisabeth II., als sie unter dem blauen Himmel über dem Buckingham-Palast saß, einem Himmel, der eindeutig sagte, Es ist nicht Weihnachten ; ihre Worte waren von den unentwegten Schritten der Blumenniederleger vor ihrem Toren untermalt. Zum ersten Mal hatte Joe das Gefühl, daß die Kühle und Distanziertheit der Königin genau richtig waren, vollkommen angemessen in dem Sinne, daß sie Maß hielt, während das ganze Land aus den Fugen geriet. Joe fühlte sich plötzlich eins mit der Königin: fremd, fehl am Platz, zur Verstellung gezwungen. Er kam sich vor wie ein Widerstandskämpfer, der eine verschlüsselte Botschaft von seinem Führer empfängt.
    Seit der entsetzlichen Nachricht vom letzten Sonntag...
    »Sie ist nicht echt«, sagte Emma. Ihre Augen waren auf den Bildschirm fixiert, und sie krauste heftig die Stirn, was Joe weniger an ihren Brauen erkannte, die so fein und hell waren, daß sie praktisch unsichtbar blieben, sondern an den ungewöhnlich tiefen Linien auf ihrer Stirn, Furchen auf jungfräulicher Haut wie Spuren in frisch gefallenem Schnee. »Guck dir ihre Augen an. Wie kalt die sind.«
    »Für mich sehen sie eher ängstlich aus«, sagte Joe.
    »Pah!« schniefte Emma und wandte sich ab. Sie saßen auf dem Sofa, das sie selbst entworfen hatte, in den Tagen vor Jackson, als sie für Chaise arbeitete, einen Alternativmöbelladen in Clapham; Emma am Ende mit dem hochgeschwungenen Rückenteil, und er an dem mit der schmiedeeisernen Armlehne. Sylvia saß zwischen ihnen, und Emma streichelte ihr unentwegt über den leberfleckigen Handrücken. Aus dem Augenwinkel konnte Joe sehen, wie die Haut bei jedem Aufwärtsstreichen Wellen schlug.
    Und was ich jetzt zu Ihnen sage, als Ihre Königin und als Großmutter, sage ich von Herzen.
    »Ja, ja, schon gut«, schnaubte Emma abfällig. Joe blickte unter sich, peinlich berührt von Emmas Ton, der so aus ihrem natürlichen Repertoire herausfiel, daß ihr Getue unbeholfen und gekünstelt wirkte, wie bei einer schlechten Schauspielerin, die »verächtliches Schnauben« probt. Ihm wurde heiß, so wie einem manchmal wird, wenn man sich für jemand anderen schämt, und seine Hand fuhr instinktiv an sein rechtes Ohr. Joes Züge waren im allgemeinen regelmäßig, das heißt, weder grob noch fein (obwohl seine Nase an der Spitze platter und breiter war, als sein Nasenrücken zunächst vermuten ließ, was Joe immer verunsicherte, weil es ihm, wie er fand, die Aura eines Boxers verlieh). Nur seine Ohrläppchen, die waren nicht Standardmaß, sondern praktisch nicht existent: Joes Ohren sahen aus, als wären sie bei irgendeinem bizarren Fabrikunfall abgeschnitten worden. Mit siebzehn oder achtzehn ist das Ohrläppchen natürlich eine der wichtigen erogenen Zonen, und Joe hatte damals sehr unter seiner mangelhaften Ausstattung in diesem Punkt gelitten — eine frühe Freundin hatte ihn tatsächlich deswegen abserviert. So hatte er sich angewöhnt, daran zu reiben und zu ziehen, in der Hoffnung, sie würden größer. Diese Gewohnheit hatte er bis heute nicht abgelegt, obwohl der Kummer über seine Ohren verblaßt war. Aber er guckte immer noch sehr oft in den Spiegel und fragte sich, ob das Alter, das allen anderen Männern große schlappe Rentnerlappen bescherte, seine Ohren auf Normalgröße anwachsen ließ.
    Sie war eine außergewöhnliche und begabte Frau...
    »Mein Gott! Red’ ausnahmweise mal mit ein bißchen Gefühl!«
    »Was soll sie denn deiner Meinung nach sagen? Das ist die einzige Art, auf die sie sich auszudrücken weiß.«
    »Na, jetzt hat sie ja mal Gelegenheit, das zu ändern! Sich zu öffnen!«
    Joe wurde das Herz schwer. Sie war plötzlich nicht mehr die Person, die er kannte, seine liebevolle, gutmütige und großherzige Emma. Sie klang für ihn wie all diese Idioten, die im Fernsehen jeden Tag Volkes Stimme ertönen ließen. All diese Leute, die so gebrochen aussahen wie Opfer von Schikanen. Irgendwo in dem Wust von Artikeln hatte Joe gelesen, daß die Leute, die Dis Tod am meisten aufgewühlt habe und die ihre Trauer öffentlich auf den Straßen zur Schau stellten, zu den Randgruppen, den Besitzlosen gehörten. Aber Joe wußte, daß es nicht Dianas Tod war, der
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