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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt
Autoren: David Baddiel
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die Abteiltür geklopft, wie in einem Film. Mit verquollenen Augen, wahrscheinlich verkatert, rollt sich Vics Freundin auf ihrem oberen Couchette herum, und ohne hinunterzusteigen schiebt sie die Glastür auf: Das Bild einer langen Latte von Frau mit zerzauster Mähne und XXL-T-Shirt mit dem Aufdruck death to the pixies war wahrscheinlich nicht gerade das, was dem Gendarm vor Augen schwebte, als er die Entscheidung traf, alle englischen Fahrgäste zu wecken und ihnen die erschütternde Nachricht mitzuteilen.
    »Vous-êtes anglais?« sagte er mit schriller, vor Aufregung überschnappender Stimme.
    »Oui...«, antwortete Tess seiner sich grell im Abteilfenster spiegelnden Silhouette.
    Eine dramatische Pause. Er holt tief Luft. »Lady Diana... (so viele Leute sagten das: Lady Diana; Frauen werden ihren Mädchennamen nie mehr los) »... elle est morte !«
    Wieder eine Pause, aber diesmal keine bedeutungsschwangere, eher eine ratlose. Der Gendarm und Tess sahen sich eine Weile an, und dann, erzählte Tess, hätte sie gesagt: »Ähm... Merck und die Abteiltür wieder zugeschoben.
    Sie lachten, über den Gendarm, bei der Vorstellung, wie er niedergeschmettert vor der Tür gestanden hatte, sich vielleicht, verunsichert, eine Weile nicht vom Fleck gerührt hatte, ehe er sich einen Ruck gab und zum nächsten compartiment weiterging, in der Hoffnung, daß die Nachrichten von den Fahrgästen dort mit mehr Sinn für den historischen Moment aufgenommen würden. Und dann sagte Tess, sie hätte beschlossen, ein paar Tage in Paris zu bleiben, weil England bestimmt durchknallen würde.

    Vic verbrachte den Sonntag wie Sie. Er sah den ganzen Tag fern, guckte und guckte: Ob der Schimmer in den Augen des Moderators noch feuchter wurde, es Hinweise auf eine Verschwörung gab, neue Nachrichten kamen, als es keine mehr gab. Er saß in dem großen Sessel in seinem kleinen Apartment hoch oben über Sydenham Hill und pfiff sich eine Überdosis Dis Tod ein. Er dachte gar nicht an Emma, außer vielleicht anzurufen und mit ihr oder Joe über das Ganze zu reden — sich auf diesem Weg einen frischen Schuß zu setzen, um seine neuerliche Sucht zu stillen —, dann ging das Telefon, und es war sie.
    »Hi«, sagte sie, und sofort konnte er den Kloß in ihrem Hals hören, welchen Kampf es sie kostete, selbst diese kleine Silbe zu sagen.
    »Hi. Geht’s gut?«
    »Ähm... nicht wirklich. Kann ich vorbeikommen?«
    Komisch, aber er ahnte nicht, warum sie so verstört war. Damals wußte er nicht, daß Leute, wirkliche Menschen, am Boden zerstört waren, daß all ihr Kummer sich in diesem einen bündelte; und so dachte er nur: »Was hat sie bloß?«, sagte aber nichts, weil sein Hoffnungsfeuer schon brannte.
    »Ja, klar. Ich bin den ganzen Tag zu Hause.«
    Als Vic die Tür öffnete und ihre roten Augen und ihr verquollenes Gesicht sah, das eindeutig nicht von einem kürzlichen Joe-Witz gekräuselt war, sagte sie zu ihm:
    »Lieber Gott, Vic — hast du geweint?«
    Er hatte nicht geweint, keine Spur. Ein oder zwei der hastig zusammengestückelten Rückblenden mit Musikbegleitung, ja, die hatte er an sich herangelassen, aber eher, um zu sehen, ob sich neben seiner kalten Faszination noch ein anderes Gefühl einstellte: Mitleid, vielleicht. Aber weinen, nein.
    Er hatte schlicht Heuschnupfen. Diesen Sommer dauerte er wirklich lang. Im Mai hatte er angefangen, mit der ersten Phase, diesem kitzligen Gefühl direkt hinterm Gesicht, wo Antihistamine noch halfen, dann, so ungefähr Mitte Juni, die zweite Phase, ein ganzer neuer Schwall von den Feldern hereinwehender Pollen, die seinen Schädel so zum Triefen brachten, daß kein Spray, keine Pille oder potentiell tödliche Injektion was ausrichteten. Anfang September sind die Pusteblumenflöckchen normalerweise weitergezogen, und wenn im Altweibersommer die Straßen voller Menschen sind, dann wahrscheinlich mit Heuschnupflern, die zu der einzigen Zeit, wo sie es können, das schöne Wetter genießen. Aber aus irgendeinem Grund, vielleicht weil der Sommer im Juli überhaupt nicht kam und nur zögernd im August, flogen in diesem Jahr die Pollen länger als sonst herum, und auch im September gab es noch Tage, an denen Vics Nase wie ein Vulkan Rotz und Wasser spuckte. Doch am 31. August waren es vor allem seine Augen, die so juckten, daß seine beiden Zeigefinger in Dauerkrümmstellung fürs nächste Reiben waren.
    Nun hatte Vic schon Heuschnupfen, als er noch gar nicht wußte, was es war, und er haßte ihn, diesen
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