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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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interessieren. Alle zwanzig oder dreißig Minuten zieht er eine große Flasche Sangria aus den Untiefen seines Anoraks hervor und nimmt einen vorsichtigen Schluck, als müsse er noch den ganzen Sommer mit dieser einen Flasche auskommen. Manchmal dreht er sich eine streichholzdünne Kippe, langsam und bedächtig, um bloß nicht zu viel Energie zu verschwenden.
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht obdachlos ist, sondern irgendwo ein kleines Zimmer hat. Hier auf der
Bank wohnt er jedenfalls nicht, und Gepäck hat er auch nie dabei. Scheint eher so was wie sein Wohnzimmer zu sein, ein Freiluft-Wohnzimmer am Wasser, so wie bei mir.
    Â 
    Wir sind schon eine gute Gang, der Nichtstuer und ich. Weder reden wir miteinander noch mit anderen. Wir kommen immer allein. Wir sind der harte Kern. Das schweigsame Duo, das lethargische Tandem, die stillen Wasser vom Landwehrkanal.
    Während ich darüber nachdenke, warum mir dieser verlotterte Typ, mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt habe, wie ein alter Kumpel vorkommt, ich aber seit meiner Rückkehr meinen wirklichen Freunden aus dem Weg zu gehen versuche, ertönen von der gegenüberliegenden Uferseite die zähnelockernden Schreie einer Frau. Es hört sich an, als würde sie bei lebendigem Leibe ausgeweidet, doch es ist nur ein Orgasmus. Ein sehr langer und intensiver Orgasmus, der aus einem offenen Fenster irgendwo hinter der mächtigen Trauerweide in die Abenddämmerung gebrüllt wird.
    Der Nichtstuer verzieht keine Miene. Vielleicht ist er ja nicht nur stumm, sondern auch noch taub. Auch ich traue meinen Ohren nicht mehr richtig. Ich fühle mich wie unter einer Glocke, in der sich das libidinöse Geblöke der Frau mit sämtlichen anderen Lauten zu einem dumpfen Geräuschteppich vermischt. Die singenden und schnatternden Vögel, das Knirschen des Kiesweges, die Fahrradklingeln, die kreischenden Kinder, das Stimmengewirr und Geschepper aus den Biergärten hinter mir, das Akkordeonspiel der Schnorrer davor, die bimmelnden Mobiltelefone und das Gelächter - alles wird geschluckt und in meinem Kopf zu einem konstanten Rauschen zusammengebacken. Sogar die mit
schrillen Sirenen die Glogauer Straße runterbretternden Krankenwagen schleichen sich verschwommen wie eine weit entfernte Melodie in meine Gehörgänge. Meine eigene Stimme höre ich kaum noch.
    Vielleicht brauche ich ein Hörgerät, eine Brille und ein Megaphon, um zurück in die wirkliche Welt treten zu können. Oder eine Schocktherapie. Oder eine infernoartige Sauftour. Zweimal habe ich probiert, mich zu betrinken. Es blieb bei dem Versuch. Die befreiende rauschhafte Wirkung wollte sich einfach nicht einstellen.
    Das Blödeste auf der Welt ist, wenn man es nicht mal schafft, sich einen anzusaufen.
    Â 
    In der Hosentasche klingelt mein Handy. Es ist Holger. Ich drücke ihn weg.
    Auch Verena hat schon zweimal angerufen. Nachdem wir uns beim ersten Telefonat nach ein paar Floskeln eine halbe Minute lang angeschwiegen haben, bin ich beim zweiten Mal nicht mehr rangegangen. Das war vorgestern. Ein paar Stunden später hatte ich dann eine E-Mail von ihr.
    Hallo Meise,
    ich habe vorhin schon mal versucht, dich telefonisch zu erreichen, aber du bist nicht rangegangen und hast auch nicht zurückgerufen.
    Ich frage jetzt mal ganz direkt: Kann es sein, dass du nicht mit mir reden willst? Bei unserem letzten Telefonat hatte ich das gleiche Gefühl. Nachdem wir aufgelegt hatten, war ich total down. Ich weiß, du telefonierst nicht gern, aber es kam mir alles so oberflächlich vor, und das finde ich sehr schade. Vielleicht täusche ich mich ja. Ich will dich auch nicht zutexten,
aber ich muss das irgendwie loswerden, sonst fresse ich es in mich rein. Vielleicht war ja gar nichts, und ich mache mir nur unnötig einen Kopf.
    Ich wollte eigentlich auch nur sagen, dass ich eine wunderbare Zeit mit dir hatte. Je länger ich zu Hause bin, desto mehr fällt mir auf, dass die zwei Monate mit dir mit das Beste waren, was ich in meinem Leben jemals erlebt habe. Und dass du so viel bezahlt hast, Mietwagen und Sprit und so, das werde ich dir nie vergessen. Nächstes Mal habe ich vielleicht Geld und du nicht, und dann werde ich mich revanchieren.
    Apropos nächstes Mal …
    Ich habe ja jetzt mitbekommen, wie du tickst. Ich mache mir da nichts vor, ich weiß, dass das jetzt nichts Festes werden kann. Allein schon wegen der 300 Kilometer
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