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Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil
Autoren: John T. Lescroart
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Teil eins
    Jennifer Witt überprüfte noch einmal den gedeckten Tisch. Alles sah vollkommen aus, doch wenn man nicht wußte, was vollkommen war, konnte man sich nie sicher sein. Sie hatte zwei neue rote Kerzen - Larry konnte halb abgebrannte, tropfende Kerzen nicht ausstehen - in hochglanzpolierten silbernen Leuchtern aufgestellt.
    Sie hatte erst daran gedacht, eine rote und eine grüne Kerze aufzustellen, weil Weihnachten vor der Tür stand. Aber Larry mochte kein Durcheinander unterschiedlicher Farben. Das Wohnzimmer war ganz in Champagnertönen gehalten - was nicht gerade einfach sauberzuhalten war, besonders mit einem sieben Jahre alten Jungen im Haus -, aber sie würde das nicht ändern. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals den Van-Gogh-Druck gekauft hatte (Ein Druck, um Himmels willen! Du willst mir einen Druck in mein Wohnzimmer hängen?) und wie die Farben Larry wirklich gestört hatten.
    Er hatte gern alles geordnet, akkurat. Er war Arzt. Menschenleben hingen von seinem Urteil ab. Er konnte sich nicht mit Müll in seinem eigenen Haus herumärgern, hatte er zu ihr gesagt.
    Also hatte sie sich für die roten Kerzen entschieden.
    Und für das Porzellangeschirr. Er mochte das Porzellangeschirr, aber andererseits regte er sich darüber auf, daß es bei ihnen zu Hause so steif zuging. Konnte sie nicht einfach mal halblang machen und ihnen irgendwas Schlichtes auf dem weißen Steingut aus dem Pottery Barn auftischen ? Vielleicht einfach Hot Dogs und Bohnen? Sic mußten doch nicht jeden Abend wie die Gourmets speisen. Sie tat ihr Bestes, um ihn zufriedenzustellen, aber bei Larry wußte man nie.
    Einmal hatte er keine Lust auf Hot Dogs und Bohnen gehabt, er hatte einen besonders schweren Tag hinter sich und Appetit auf Essen für Erwachsene. Und Matt hatte einen schlechten Tag in der Schule gehabt und quengelte, und einer der Teller war angestoßen.
    Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden.
    Heute abend wollte sie es wieder wettmachen, es zumindest versuchen, also hatte sie sich für das Porzellangeschirr entschieden. Sie spürte, daß er unzufrieden war... der Zustand verschlimmerte sich jedesmal, bevor er explodierte... und sie versuchte die Explosion noch ein paar Tage hinauszuschieben, wenn sie konnte.
    Also hatte sie sein Lieblingsessen zubereitet - den speziellen Kalbsnierenbraten, den man bei Little City Meats in North Beach kaufen mußte. Und den Dezemberspargel von Petrini's für 4 Dollar 99 das Pfund. Und sie hatte Matt früh ins Bett gesteckt.
    Sie betrachtete sich im Spiegel und fand es sonderbar, daß so viele Männer sie für attraktiv hielten. Ihre Nase hatte auf halber Höhe einen kleinen Höcker. Ihre Haut kam ihr beinahe durchsichtig vor, beinahe wie eine Totenmaske. Man konnte überall ihre Knochen sehen, und sie war zu mager. Und das Blau ihrer Augen war zu hell für ihre olivfarbene Haut. Sie lagen tief in den Höhlen, sahen irgendwie fremdländisch aus, als ob ihre Vorfahren aus Sizilien oder Neapel stammten statt aus Mailand, wo sie tatsächlich herkamen.
    Sie beugte sich vor und sah genauer hin. Ein Äderchen war noch immer geplatzt, aber der Lidschatten verdeckte den letzten der gelbgrünen Flecken. Als sie darauf wartete, daß er heimkam, alles überprüfte und noch einmal überprüfte, hatte sie sich wieder auf die Unterlippe gebissen. Gott sei Dank bemerkte sie den korallenroten Lippenstiftfleck auf dem Zahn, die leichte Schmierspur, wo der Rand verwischt war.
    Rasch und mit einem Ohr auf die Haustür lauschend, stieg sie aus ihren Schuhen und huschte auf Zehenspitzen über das Hartholzparkett - sie wollte Matt nicht wecken - ins Bad, wo das Licht besser war. Sie nahm ein bißchen Kleenex und tupfte die Lippen ab, zog mit dem Konturenstift erneut die Lippen nach und trug dann das Lipgloss auf. Larry mochte es, wenn die Lippen feucht schimmerten. Aber nicht zu stark. Zu stark sah billig aus, als lege man es darauf an, sagte er.
    Sie ging zurück zum Eingangsbereich des Hauses. Als sie auf dem champagnerfarbenen Teppichboden angelangt war, schlüpfte sie wieder in ihre Pumps.
    Der Olympia Way, oben beim Sutro Tower, lag ruhig da. Heute war der kürzeste Tag des Jahres, der erste Wintertag, und die Straßenlaternen leuchteten, seit sie um fünf vom Einkaufen zurückgekommen war. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach sieben.
    Das Abendessen würde um Punkt zwanzig nach sieben fertig sein, zu der Zeit, zu der sie immer aßen. Larry kam jeden Tag zwischen zehn vor sieben und
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