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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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hilfsbedürftig fühle. Irgendwann hat sie sogar mal meinen angeblich so hohen »Frauenverschleiß« damit begründet.
    So klug meine Schwester auch ist, aber das hört sich für mich eher nach einer dieser hilflosen Erklärungen für alles und nichts an. Modekrankheiten, Verlegenheitsdiagnosen, Zeitgeistquatsch.
    Da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht bei ihr gemeldet, seit ich zurück bin. Na ja, mache ich später mal. Jetzt erst mal ans Wasser, ein bisschen abhängen.
    Â 
    Diese Parkbank ist so was wie mein Stammplatz geworden. In den letzten sieben Tagen habe ich jeden Tag mehrere Stunden im Schatten der großen Buche am Paul-Lincke-Ufer verbracht. Morgens, mittags, abends, nachts. Der Boden ist gesäumt von Kronkorken, ausgespuckten Kaugummis und Zigarettenkippen. Die meisten sind wahrscheinlich von mir.
    Ich habe hier mehrere Sonnenuntergänge erlebt. Auch einen Sonnenaufgang. Vor ein paar Tagen gab es abends ein plötzliches Wärmegewitter. Ich blieb einfach sitzen und ließ die dicken Tropfen mein Gesicht hinunterlaufen. Ich habe einen Ehestreit beobachtet, eine Schlägerei zwischen drei arabischen Kids mit dunklem Flaum auf den Oberlippen
und einen Unfall mit zwei Fahrrädern und einem Hund.
    Â»Können Sie mal Ihren Scheißköter von mir entfernen!«
    Â»Ich entfern gleich deine Scheißzähne, Alter.«
    Ein Mann schrie eine Frau an, die ein Kind anschrie. Das Kind weinte, woraufhin ein anderes Kind in seinem Kinderwagen vor Schreck aufhörte zu weinen. Einmal bin ich in der Abenddämmerung auf der Bank eingeschlafen, und als ich im Dunkeln wieder wach wurde, saß zwei Meter neben mir ein Fuchs und starrte mich an. Vorgestern, oder vorvorgestern, sank ein schlafender Mann auf der Bank neben mir zu Boden und schiffte sich komplett ein. Dem Geruch nach hatte er drei Wochen lang nichts anderes als Benzin getrunken.
    Manchmal duftet es vom Kanal her ein bisschen nach Kloake, und aus den Büschen weht ein Hauch von Müllhalde herüber. Man gewöhnt sich dran.
    Heute ist es ziemlich windstill, da riecht man gar nichts. Ein traumhaftes Wetter. Trocken, freundlich und heiß. Normalerweise stehe ich ja nicht besonders auf Hitze, aber nach den letzten zwei Wochen in New York kommt mir hier alles absolut erträglich vor. Besonders Manhattan war tagsüber kaum zu ertragen.
    Â 
    Ich lockere die Schnürsenkel meiner Turnschuhe, stelle die Füße auf die kleine Mauer vor mir, zünde mir eine Zigarette an und betrachte, was mein Blickfeld kreuzt.
    Jogger und Radfahrer. Raver, Hippies, Punks. Schüler und Studenten, Eltern und Kinder, Arbeitslose und Künstler, Rentner und Jugendliche. Paare und Schwangere. Schwule und Lesben. Boulespieler und Gitarristen. Kiffer und Pillenfresser. Säufer der verschiedensten Schattierungen, manche
alt und melancholisch, andere jung und albern. Pfandgeier und Landeier. Wochenend-Berlin-Besucher, die in Stadtpläne oder Reiseführer vertieft den Joggern im Weg rumstehen. Betrunkene, die vor Fahrräder torkeln. Halbnackte und komplett Verschleierte. Frauen in Kopftüchern und Frauen unter Burkas, ganz in Schwarz in der prallen Sonne. Streitende, Küssende, Feiernde, Fluchende und Verwirrte, die wild gestikulierend mit sich selbst reden. Ein junges Mädchen weint in ihr Telefon, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es gibt Hunde, Ratten, Mäuse, Katzen, Schwäne, Enten, Spinnen, Vögel. Und Schiffe. Ausflugsdampfer voller Menschen mit Sonnenbrillen und Schlapphüten. Und eine Ansagerin, die ihnen vom Wasser aus die Stadt erklärt. Die Bootsgäste gaffen die Menschen am Ufer an wie Affen im Zoo. Die Menschen am Ufer gaffen genauso zurück. Da ist die Kreuzberg, die Schöneberg, die Charlottenburg, die Prenzlauer Berg, die Rixdorf. Die Brasil und die Sanssouci, die Spree Athen, die Spree Comtess, die Spree-Prinzessin, die Spree-Perle, da sind Schlauchboote, Tretboote, Motorboote - beladen mit jungen Leuten, die den Sommer in der Stadt genießen.
    Das sollte ich vielleicht auch mal machen.
    Aber irgendwie werde ich einfach nicht richtig wach. Es erscheint mir viel zu anstrengend, mich zu amüsieren.
    Â 
    Plötzlich eine vertraute Stimme.
    Â»Meise, alte Hütte!«
    Es ist Heiko. Heiko ist einer der Stammgäste im Radetzky. Wenn er nicht da ist, nennen wir ihn Psycho-Heiko. Manchmal auch, wenn er da ist. Er hatte wohl mal eine Psychose. Ich habe
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