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Was ist mit unseren Jungs los

Was ist mit unseren Jungs los

Titel: Was ist mit unseren Jungs los
Autoren: Allan Guggenbuehl
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projizieren. Ihre Fantasien drehen sich nicht um Sitzungen mit einem empathischen Psychiater, Psychologen oder Sozialarbeiter, sondern beziehen sich auf die Außenwelt. Im therapeutischen Setting fühlen sie sich beziehungslos. Wenn wir als Therapeuten wollen, dass sich die jungen Männer öffnen und kooperieren, dann müssen wir die Sitzungen gelegentlich in Räumen durchführen, die ihre Imagination anregen und ihren Fantasien entsprechen. Wir müssen uns in Räume wagen, die nicht nur nach Gesundheit und Anpassung riechen. Bei unserem AAT-Programm suchen wir darum die Stadt nach Örtlichkeiten ab, in denen sich die Jungen heimisch fühlen und die sie mit ihren Mythen und Fantasien verbinden. Es kann sich um eine alte Dampfzentrale, die Vorhalle einer Papierfabrik, das Parlamentsgebäude, die Räume einer Brauerei, einer Kaserne, dem Depot einer Eisenbahngesellschaft oder um eine vergammelte Reiterhalle handeln. Entscheidend ist, was die Räume kommunizieren. Sie sollten ein Grundthema unserer Gesellschaft repräsentieren. 133 Wenn man sie betritt, muss man das Gefühl haben, man partizipiere an der existentiellen Herausforderung: Man ahnt, welche Anstrengungen für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Verkehrs geleistet werden, spürt die Energien, die für die Herstellung von Papier aufzuwenden sind, erlebt den Einsatz, den es für die öffentliche Sicherheit braucht. Die Jungen erfahren indirekt, was es braucht, damiteine Gesellschaft funktioniert, welche Anstrengungen für die Bändigung von Energien oder der Befriedigung der existentiellen Grundbedürfnisse aufgewendet werden. Oft ändert sich die Stimmung unter den Jugendlichen, sobald sie solche Räume betreten.
    Auch der Gang von unserer kantonalen, staatlichen Institution zum Austragungsort unserer Sitzungen hat eine besondere Bedeutung. Wie bringt man 5 bis 10 Jungen dazu, rasch und zielgerichtet von der kantonalen Erziehungsberatung zum Tramdepot oder der Dampfzentrale zu gelangen? Viel Zeit darf dafür nicht aufgewendet werden, sonst geht wertvolle Sitzungszeit verloren. Die Gefahr ist, dass die Jungen trödeln. Anfänglich versuchten wir es auf gewohnte Weise: Mahnungen sich zu beeilen, Wegerklärungen, Aufforderungen, schnell aufzubrechen, hinter den Jungen hergehen und immer wieder den Polizisten spielen. Mit dieser Taktik kamen wir jedoch rasch an unsere Grenzen. Die Jungen provozierten, übten sich in Langsamkeit und wollten alle fünfzig Meter eine Unruhepause einschalten. Sie nutzen den Weg, um uns ihre Autonomie zu beweisen. Nach diesen Erfahrungen änderten wir unsere Taktik: Statt in einer geschlossenen Gruppe zum entsprechenden Ort zu gelangen und sie zu beaufsichtigen, liefen wir ihnen davon. Nachdem wir ihnen kurz das Ziel bekanntgegeben hatten, verließen wir die Räumlichkeiten der Erziehungsberatung und entfernten uns, ohne zurückzublicken und uns darum zu kümmern, ob sie uns folgen. Wir schritten zielstrebig zum Austragungsort der Sitzung. Mussten wir öffentliche Verkehrsmittel benutzen und drohten wir eine Straßenbahn oder den Bus zu verpassen, legten wir einen kurzen Spurt ein. Ob uns die jungen, kräftigen Kerle nachkommen würden, interessierte uns nicht. Natürlich meckerten sie, wenn die Straßenbahn davonfuhr, sie die nächste Bahn abwarten und schwarz fahren mussten, weil wir ja die Sammelfahrkarte bei uns trugen.
    Wenn wir auf diese Weise zum Sitzungsort gehen, ändert sich die Dynamik unter den Jungen. Die Trödelei wird abgelegt und der Jagdinstinkt erwacht. Aus einer trägen Masse wird eine gestresste Truppe. Die Jungs wollen mithalten und strengen sich an. Sie verzichten auf Rauchpausen und rennen sogar, um einen Bus zu erwischen. Es geht um den Ehrgeiz, ob sie uns Alten überhaupt noch nachkommen. Es ärgert sie, wenn sie uns nicht mehr sehen oder verspätet erscheinen. Einzelne beschweren sich: Wieso habt ihr nicht gewartet? »Wenn ihr uns nicht folgen könnt, dann habt ihr ein Problem, nicht wir!«, antworten wir ihnen.
Abklärung der Hierarchien
    »5 Minuten und 21 Sekunden!« Der Junge macht ein verkniffenes Gesicht, flucht und beugt seinen Körper zur Seite. Die Zweiliterflasche scheint eine Tonne zu wiegen. Der Junge kann sie fast nicht mehr mit seinem ausgestreckten Arm hochhalten. Die anderen Jungen klatschen, johlen und muntern ihn auf durchzuhalten.
    Nach der Ankunft in den Räumen müssen sich die Jungen zuerst als Gruppe formieren. Sie müssen Vertrauen zueinander gewinnen, bevor wir mit ihren Themen
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