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Was ist mit unseren Jungs los

Was ist mit unseren Jungs los

Titel: Was ist mit unseren Jungs los
Autoren: Allan Guggenbuehl
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laufen und beschäftigen uns mit uns selber. Statt uns auf ihn auszurichten, beginne ich ein Gespräch mit meiner Kollegin oder meinem Kollegen. Wir unterhalten uns dann über private Themen, die Freizeit oder blödeln. Der Junge interessiert uns dann scheinbar nicht mehr. Wir wenden uns ihm erst wieder zu, wenn er auf seinem Stuhl hin und her rutscht und sich wahrscheinlich fragt, was er bei diesen komischen Psychologen verloren hat. Wir wählen diese Taktik, weil viele Jugendliche gewohnt sind, bei Kontakten mit sozialen Institutionen im Zentrum zu stehen. Sie sind ein interessanter Fall und alle reden auf sie ein. Sie fühlen sich wichtig, weil man sich mit ihnen beschäftigen muss. Sie geben sich Bedeutung, weil sie ein Sozialfall sind und alle sich über sie entsetzen. Da wir bei diesem Spiel nicht mitmachen wollen, strafen wir sie zunächst mit Missachtung, wenn sie glauben, sich im Erstgespräch distanziert und abgeklärt geben zu müssen. Erst wenn er unruhig wird, wenden wir uns ihm zu und stellen Fragen. »Hast du überhaupt etwas bemerkt, als du uns beim Gespräch zugehört hast?«, frage ich oder meine Kollegin den Jungen beiläufig. Natürlich wissen sie mit einer solchen Frage nichts anzufangen. Sie blicken uns in der Regel verdutzt an. »Vielleichthast du gemerkt, woher ich komme«, frage ich dann eventuell weiter. Die meisten Jungen sind in solchen Situationen um eine Antwort verlegen. »Weißt du, woher meine Kollegin kommt?« »Sie kommt aus Luzern oder so?«, wird er möglicherweise mutmaßen und zu mir sagen: »Sind Sie aus Zürich?« Wenn sie eine solche Antwort geben, antworte ich: »Ich komme nicht nur aus Zürich, nein, mehr: ich komme aus der coolsten und spannendsten Stadt der Schweiz. Dort, wo ich lebe, läuft etwas, und außerdem sind wir Zürcher schlauer, fixer und interessanter als die Bewohner anderer Städte. Ich verstehe, dass du gewalttätig bist! In einem solch langweiligen Nest wie Bern bleibt dir keine andere Wahl!«
    Natürlich handelt es sich um eine Provokation. Die Worte sind nicht ernst gemeint. Wenn wir jedoch regionale Identitäten, die Zugehörigkeit zu einem Fußballclub oder sogar eine nationale Identität ansprechen, dann locken wir viele coole Jungs aus der Reserve. Durch solche Provokationen bringen wir diese Jugendlichen dazu, sich wirklich zu zeigen und mit uns Kontakt aufzunehmen. Die meisten renitenten Jugendlichen wachen auf, legen ihre Coolness ab und widersprechen uns: »Stimmt überhaupt nicht: Bern hat genauso viel zu bieten wie dieses Zürich!«, entgegnen einige vehement. Wenn sie auf diese Weise reagieren, gehen wir einen Schritt weiter. »Ja sicher? Wenn das so ist, dann beweise es! Reden kann jeder!« Wir fordern sie anschließend auf, mit uns hinauszugehen und in der Stadt konkret jene Orte oder Gegenden zu zeigen, in denen etwas läuft, die cool sind. Wir möchten, dass die Jungen uns beweisen, dass ihr Bern auch lebenswert ist. Zu dritt brechen wir dann zu einem kleinen Stadtspaziergang auf.
    Diese Stadt- oder Szenenspaziergänge erfüllen verschiedene Funktionen. Es zeigt sich immer wieder, dass Jungen sich öffnen, wenn sie sich bewegen können. Gespräche in sitzender Stellung, von Angesicht zu Angesicht, liegen ihnen weniger. Sie beginnen sich einzuigeln, wenn sie sich den direktenBlicken eines Therapeuten ausgesetzt fühlen. Oft haben sie auch schon zu viele Gespräche mit Sozialarbeitern, Psychologen, der Polizei oder Lehrern gehabt und empfinden darum das direkte Gespräch als einen Unterwerfungsakt. Wenn sie jedoch neben einem her gehen, den Blick auf die Umgebung oder andere Menschen schweifen lassen können, dann lockert sich ihre Zunge. Das direkte Kontaktgespräch, das in Therapien die Norm ist, erleben viele als mühsam. Will man mit solchen Jungen in Kontakt treten, muss das Gespräch die Qualität eines zufälligen verbalen Austauschs oder einer belanglosen Plauderei haben.
    Die Stadt- oder Szenenspaziergänge geben den Jungen auch die Chance, uns ihre Welt zu zeigen. Sie berichten von ihren Schlägereien, zeigen die Lokale, in denen sie sich treffen, präsentieren die Tags, die sie sprayten und die dunklen Ecken, in denen illegale Geschäfte getätigt werden. Einige Jungen prahlen, andere schwindeln uns an und wieder andere sind beschämt. Sie stellen sich als Held, Täter oder Kämpfer vor, während wir als Greenhorns neben ihnen herwatscheln. Je nachdem was sie uns erzählen sind wir entsetzt, erstaunt, leicht gelangweilt oder
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