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Was ist mit unseren Jungs los

Was ist mit unseren Jungs los

Titel: Was ist mit unseren Jungs los
Autoren: Allan Guggenbuehl
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einfach interessiert. Natürlich ist uns bewusst, dass viele Schilderungen nicht stimmen. Wahrheit und Fiktion vermischen sich. Erlebnisse, die sie vom Hörensagen kennen, werden als eigene Erfahrung präsentiert, und andere Vorkommnisse werden grandios übertrieben: Ein harmloser Streit wandelt sich zu einem Kampf der Titanen. Andere Jugendliche banalisieren: Aus einer nachweislich brutalen Auseinandersetzung wird ein schlichter Streit. Bei den Spaziergängen geht es uns nicht um ein Aufnehmen der Tatbestände, sondern wir geben den Jugendlichen eine Gelegenheit, von ihren Erfahrungen, Fantasien, ihrem Ärger und ihren Hoffnungen zu berichten. Durch die Spaziergänge erhalten wir Einblick in ihre Lebenswelt und ihr Freizeitverhalten. Sie stellen uns ihre Welt vor und müssen sich nicht als erstes den Codesund Erwartungen der Erwachsenen fügen. Sie erzählen uns Geschichten , die oft wenig mit der Realität zu tun haben, jedoch ihre Seelenwelten widerspiegeln. »Nächstens wird es hier zu einer Abrechnung kommen, es geht um Rache, Ehrverletzung. Ekrem hat Sahard bezichtigt, einen Schuppen angezündet zu haben! Sahard lässt nicht nach, total krass!« informierte uns ein Junge. Tatsächlich war jedoch nichts geschehen. Den Rachefeldzug hatte sich der Junge in seiner Fantasie ausgemalt. Vor allem bei leicht machistischen Jugendlichen ist es wichtig, dass sie zuerst ihre Performance abspielen können, bevor man von ihnen etwas verlangt. Der Anpassung geht der Selbstdarstellungsakt voraus. Durch die Spaziergänge erhalten die Jugendlichen eine Bühne, so dass sich ihr Selbstwertgefühl erhöht, und es ist für sie möglich, über sich zu reden und sich uns anzunähern. Nach ihrer Performance zeigen die meisten Jugendlichen ein offenes Ohr für unsere Anliegen. »Worum geht es eigentlich bei Ihren Gruppen?«, fragen dann manche Jungen.
    Interessant ist, dass die Jugendlichen ihre Umgebung mit anderen Augen sehen als wir Erwachsene. Vernachlässigte Parks und schummrige Lokale werden zu zentralen Treffpunkten und gepflegte Stadtteile sind verpönt. Niemand geht ins City-West, und im Rosengarten trifft man sich nur bei Abrechnungen. Randzonen werden zu Szenetreffpunkten: in einem Park, bei dem man über die Stadt blicken kann, geschieht »alles«, oder vor einer alten Reithalle »geht es immer los.« Gewisse, sonst unbedeutende Läden haben bei den Jugendlichen Kultstatus.
    Aus den Beschreibungen der Vorkommnisse der Jungen hört man jedoch noch mehr heraus. »Vor der Reiterhalle begegneten sich letzten Sommer ein Somalier und zwei Albaner. Die Albaner wollten auf den Somalier los, bedeuteten ihm, er solle herauskommen, dieser war jedoch sturzbetrunken. Ich trat vor die Halle, hielt meine Hände in meiner Jacke undblickte die zwei an und fragte, was sie wollen. Sie verzogen sich sofort. Ich hatte sie geblufft!« Viele Geschichten der Jugendlichen haben archetypische Züge. Damit ist gemeint, dass Themen auftauchen, die die Menschheit schon immer beschäftigt haben: Verrat, Heldentum, List, Intrigen, Abwehr des Bösen und Machtkämpfe zwischen Gruppen. 131 Mit Hilfe dieser Geschichten beseelen die Jugendlichen ihre Umwelt. Sie projizieren ihre eigenen Spannungen, Sehnsüchte und Frustrationen auf die Umgebung, in der sie leben. Sie kreieren sich eine Welt, in der sie kämpfen, sich Risiken aussetzen und verletzt werden können. Eigentlich machen sie sich ihre Umgebung zur Heimat, indem sie ihr unheimliche Züge andichten. Sie geben sich ein spannungsgeladenes Milieu, damit sie in die Erwachsenenwelt eintreten und an den großen Dramen des Lebens teilhaben können. Mangels offizieller, kollektiver Anschlussrituale schaffen sie sich ihre eigenen Tests und Mutproben. Sie entwerfen sich eine Umgebung, in der sie sich profilieren, Ängste überwinden und die sie schließlich als Mann verlassen können. Eine adrette Vorstadtsiedlung verwandelt sich in ihrer Vorstellung zu einem Ghetto von South Chicago, und der Vorplatz eines Einkaufszentrums wird zu einem Treffpunkt der Mega-Gangstas. Viele Jungen wollen mit Gefahren konfrontiert werden, wagen Tabubrüche und streben nach existentiellen Herausforderungen, damit sie sich eine eigene Geschichte spinnen können und so in die Erwachsenenwelt aufgenommen werden.
    Nach den Spaziergängen kehren wir in das Besprechungszimmer zurück. Zuerst kommentieren wir den Spaziergang. Anschließend teilen wir dem Jungen mit, dass es nun um die Frage der Teilnahme in der Gruppe geht, darum, ob er
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