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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt
Autoren: Allison Winn Scotch
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wenn sie die Bühne betritt oder wenn jemand zu lange ihre Schönheit bewundert. Ich komme mir vor wie ein völlig anderer Mensch. Was, wenn ich es recht bedenke, während ich endlich den Blick in den Spiegel wage, den Kopf hin und her drehe und ehrfürchtig meine Verwandlung bewundere, wahrscheinlich der Zweck der Übung war.

    Abends klopft Luanne an meine Tür. Sie sprengt fast ihren Wintermantel und erinnert mich sehr an den Marshmallow-Man. Mein Anblick verschlägt ihr den Atem.
    «Oh mein Gott!», sagt sie, lässt die Finger durch meine neue Frisur gleiten, ohne zu fragen; eine Vertraulichkeit, die sich nur Geschwister erlauben. «Ich hätte dich fast nicht erkannt.»
    Ich sage ihr nicht, dass ich das als Kompliment nehme, und scheuche sie grinsend ins Haus.
    «Dad wartet im Auto», sagt sie, als ich ihr einen Stuhl anbiete. «Er würde gerne reinkommen und selbst mit dir sprechen. Danach bringe ich ihn in die Reha-Klinik.»
    «Welche Reha-Klinik?»
    «Hat Darcy dir nichts davon erzählt?» Ich schüttle den Kopf. «Wir haben mit ihm gesprochen», erklärt Lulu. «Am Tag ihrer Entlassung hat er sie im Krankenhaus besucht …»
    «Da habe ich ihn aber nicht gesehen», unterbreche ich.
    «Nein.» Sie schürzt die Lippen. So resolut kenne ich sie gar nicht. «Er hat sich mit mir abgesprochen, damit du ihn nicht sehen musst.»
    Ich bin augenblicklich dankbar, dass mein Vater trotz tausender Gründe, ihn verabscheuungswürdig zu finden, zumindest genug Anstand besitzt, mich den Scherbenhaufen meiner Vorstellung von einer heilen Familie ungestört betrauern zu lassen.
    «Wie dem auch sei», sagt sie und klimpert mit dem Schlüsselbund. «Darcy und ich haben ihn direkt konfrontiert. Wir haben ihm klargemacht, dass wir jeden Kontakt zu ihm abbrechen, wenn er seine Sucht nicht vollkommen besiegt. Nicht halbherzig und nicht auf eigene Faust.» Ihre Finger umschließen die Schlüssel und ersticken jedes Geräusch. «Zuerst hat er sich dagegen gesperrt, aber als er merkte, dass es uns ernst ist, war er irgendwann einverstanden. Er geht zurück in die Klinik.»
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fehlen schlicht die Worte. Ich starre nur zu Boden, hebe dann den Blick und sehe meine jüngere Schwester an, erstaunt, dass sie, die nie Stellung bezogen hat, und Darcy, die immer zu wütend war, um sich um irgendwas zu scheren, in der Lage waren zu tun, was ich nie hätte tun können. Meinen Vater zum Handeln zwingen, darauf bestehen, dass er sich uns gegenüber anständig benimmt, den Berg zu bezwingen, selbst wenn oben eine Lawine droht.
    «Danke», flüstere ich schließlich.
    «Du brauchst mir für nichts zu danken», sagt sie. «Wir haben nur getan, was getan werden musste. Nicht für dich. Sondern für Dad.»
    «Aber ihr habt es getan, weil ich es nicht konnte. Ihr habt es getan, damit ich es nicht tun musste»
    Seufzend lehnt sie sich zurück, legt den Kopf gegen den Geschirrschrank und mustert den Ventilator an der Decke.
    «Ach, Till. Darcy hat mir die ganze Geschichte erzählt. Und auch dass du der Meinung bist, sie hätte dir von Dads Affäre erzählen sollen, damit du die Sache hättest in die Hand nehmen können.» Dann sieht sie mich an, zärtlich und liebevoll, meine Schwester seit dreißig Jahren. «Aber du hättest es nicht gekonnt. Das hättest du wahrscheinlich wirklich nicht geschafft. Du hättest das alles nie tun müssen, dich um alles selbst kümmern. Darcy und ich hätten unseren Teil schon geschultert, wenigstens etwas davon, wenn du uns nur gelassen hättest; wenn du uns darum gebeten hättest.»
    Ich zucke hilflos die Achseln, weil ich nicht weiß, ob ich das glauben soll, und selbst wenn, jetzt lässt es sich sowieso nicht mehr ändern. So war es nun mal, so waren die Strukturen und Hierarchien bei uns eben verteilt – und vielleicht sind wir in Zukunft alle ein bisschen klüger, ein bisschen einfühlsamer, ein bisschen schneller, wenn es darum geht, die Wunden jener zu versorgen, die wir Familie nennen, selbst wenn genau sie es manchmal sind, die diese Wunden verursachen.
    Draußen hupt es, und wir zucken beide zusammen.
    «Dad!», sagt Lulu. «Wahrscheinlich fängt er langsam an zu frieren. Ich habe zur Sicherheit den Motor abgestellt, damit er am Ende nicht noch auf dumme Gedanken kommt.»
    Sie klimpert kichernd mit dem Autoschlüssel, und ich lache mit. Ich begleite sie zur Tür, und sie fragt: «Bist du sicher? Willst du wirklich nicht mit rauskommen und mit ihm sprechen?»
    «Ganz
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