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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt
Autoren: Allison Winn Scotch
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dass die Träume frei im Raum schweben und eingefangen werden können, aber nur von denen, die den Mut besitzen, die Hände danach auszustrecken.

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    Neunundzwanzig
    A ls ich die Haustür aufsperre, sitzt Tyler in seinem Zimmer vor dem Fernseher. Der Ton ist bis in die Diele zu hören. Eigentlich sollte ich zu ihm rübergehen, sagen, dass ich wieder da bin und ihn fragen, was er zu Abend essen möchte. Stattdessen gehe ich die Treppe rauf ins Schlafzimmer. Er ist erst seit zwei Wochen wieder hier, und wir gleiten bereits wieder in unser altes Fahrwasser zurück. Was vorher absolut in Ordnung gewesen wäre. Bevor alles passiert ist. Aber jetzt ist es nicht mehr in Ordnung, kein bisschen. Er ist zwar in unser Ehebett zurückgekehrt – eine echte Veränderung –, aber der ganze erstickende Rest ist mir nur allzu vertraut. Wie er sich morgens zu mir ins Bad quetscht, um sich zu rasieren, wo ich mich inzwischen doch daran gewöhnt hatte, ganz allein für das Beschlagen des Spiegels zu sorgen; wie er mich, trotz allem, ständig fragt, was es zum Abendessen gibt, als könnte er nicht selbst am Supermarkt halten und wenigstens diesen einen Part übernehmen; wie er ständig wie süchtig durch die Sportkanäle zappt und sich dabei per Standleitung mit Austin über Punkte und Fehler ereifert, Oh Mann, da trifft ja noch ein Blinder mit Krückstock besser , in einer Tour, obwohl die Außenwelt uns soeben bewiesen hat, dass dieser Mist nun wirklich keine Rolle spielt.
    Ich schüttle die Schuhe ab, sinke erschöpft auf den Teppich, massiere mir die schmerzenden Füße und robbe zur Kommode. Ich ziehe die unterste Schublade auf. Der fotografische Inhalt meines Lebens quillt mir entgegen, genau wie damals vor meiner ersten Vision, bevor sich alles entwirrte. Vorher.
    Ich wühle in dem Durcheinander, bis ich es gefunden habe. Das perfekte Abbild meiner Familie, kurz bevor meine Mutter krank wurde. Wir alle zusammen auf der Veranda; voller Glück, voll Liebe und Zuneigung, ich noch schnell ins Bild gehechtet, nur im Profil zu sehen, wie ich mich vor meine Familie werfe, ehe der Selbstauslöser den Moment zum Standbild gefriert. Das ideale Bild, das nichts weiter war als Maskerade, eine Fassade, wie ich jetzt weiß, die, hätte ich nur etwas tiefer gestochert, einfach in sich zusammengefallen wäre.
    Darcy hat sich mir gestern endlich anvertraut, nach Dantes täglichem Besuch, als sie wieder etwas zu Kräften gekommen war und die tägliche Litanei böser Witze über ihr achtzehiges Leben beendet hatte.
    «Ich wünschte, du wärst nicht ganz so morbide», sagte ich zu ihr.
    «Das ist doch nicht morbide», lachte sie. «Ganz im Gegenteil. Ich habe nur noch acht Zehen, Tilly, das steht fest. Und wenn ich darüber nicht lachen kann, über was soll ich dann überhaupt noch lachen?»
    «Wahrscheinlich hast du recht», antwortete ich und musste selbst ein bisschen lachen. «Lustig, oder? Plötzlich bist du die Optimistin von uns beiden.»
    «Nicht plötzlich», widersprach sie. «Es hat eine Weile gedauert.»
    Ihr Gedächtnis ist völlig in Ordnung. Die Nacht unter einer Decke aus Schnee hat ihrem Gehirn nichts anhaben können. Und so erzählte sie mir alles: Sie hatte mit gerade mal acht Jahren meinen Vater und Valerie erwischt, kurz vor Moms Diagnose, ungefähr zu dem Zeitpunkt des fröhlichen Schnappschusses auf der Veranda. Meine Mutter hatte Darcy hastig vor dem Laden abgesetzt, weil sie es eilig hatte, zu einer Klavierschülerin zu kommen, und Darcy tat, was sie immer tat. Sie ging ins Büro, um sich eine Cola zu holen. Nur dass sie dort statt der Cola meinen Vater fand, die Hand in Valeries Bluse, gegen den Kühlschrank gepresst, den Darcy im Visier hatte.
    «Ich bitte zu beachten, dass ich von dem Moment an bis zum College von meiner Colasucht geheilt war», bemerkte Darcy trocken.
    «Wie kannst du daran nur im Ansatz irgendetwas komisch finden?» Ich war fassungslos.
    «Ach, Till, ich weiß es nicht. Ich war so verdammt lang so verdammt angepisst deswegen … sogar vor ein paar Wochen noch …» Sie verstummte. «Und jetzt habe ich nur noch acht Zehen … ich war so wütend, dass ich eine Flasche Wodka gekippt habe, durch den Wald gelaufen bin und das Bewusstsein verloren habe, und jetzt … jetzt habe ich nur noch acht Zehen. Für immer. Das lässt sich nicht mehr ungeschehen machen.»
    Ich nickte, vielleicht weil ich verstand, dass ihr das half loszulassen, und sie fuhr fort.
    Die Erwachsenen waren
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