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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt
Autoren: Allison Winn Scotch
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verständlicherweise entsetzt und redeten Darcy ein, dass sie das, was sie zu sehen glaubte, nicht gesehen hatte. Valerie sei eine Spinne in den Ausschnitt gekrabbelt und sie hätte so erbärmlich geschrien, dass mein Vater ihr zu Hilfe geeilt wäre, ehe die böse Spinne ihre giftigen Zähne in Valeries Fleisch schlagen konnte. Darcy lächelte und trank drei Flaschen Cola hintereinander, nur um die Erwachsenen zum Schweigen zu bringen. Valerie kaufte mit viel Tamtam einen neuen Videorekorder und verließ mit verrutschtem Rock den Laden durch die Vordertür.
    «Dad hat mir gesagt, ich sollte Mom nichts davon erzählen, weil sie sich dann nur Sorgen machen würde, dass der Laden voller Spinnen wäre», sagte Darcy, und eine Schwester kam, um die Infusion zu prüfen. «Ich habe ihm kein Wort geglaubt, aber mir war trotzdem klar, dass es Mom vernichten würde. Ich war zwar erst acht, aber solche Dinge weiß man irgendwie trotzdem.» Sie machte ein nachdenkliches Gesicht und trank einen Schluck Wasser aus der Schnabeltasse auf ihrem Nachttisch. «Keine Ahnung. Mir ist nie klar geworden, ob ich das Richtige getan habe oder nicht.»
    Während sie mir die ganze Geschichte erzählte, stellte ich ein paar Berechnungen an. Wenn Darcy damals acht gewesen war und Ashley Wind von der Affäre bekommen hatte, als wir beide zwölf waren, dann war es mehr als ein Kurzzeitintermezzo. Es war eine Affäre über mindestens fünf Jahre, denn wer weiß, ob Dad sie wirklich sofort beendete, als seine jüngste Tochter aus Versehen dazwischenfunkte und gezwungen wurde, die Last seines selbstsüchtigen Geheimnisses zu schultern. Die Wut auf meinen Vater kochte wieder hoch, das Blut pochte mir im Hals und dröhnte in meinen Ohren.
    «Wieso hast du mir das nie erzählt?», fragte ich sie sanft. «Wenigstens mir hättest du es doch sagen können.»
    Darcy wägte ihre Worte ab.
    «Mom wurde krank, und du hattest schon genug um die Ohren.» Ihr Blick war wohlwollend, liebevoll, und ich fragte mich, wie mir das all die Jahre hatte entgehen können. «Ich dachte, so könnte ich wenigstens meinen kleinen Beitrag leisten. Ich wusste doch, dass der ganze Rest auf deinen Schultern ruhte.»
    Ich sah sie an. Mutig und klug und mich beschützend, ihre große Schwester, und genau so hielt ich sie in Gedanken fest. Klick . Ja, diesen Augenblick wollte ich unauslöschlich festhalten.
    Und jetzt sitze ich an einem trüben Novemberabend in meinem Schlafzimmer auf dem Fußboden, während mein Ehemann unten vor dem Fernseher hockt, und starre das Foto von jenem Nachmittag auf der Veranda an, das mit einem Schlag seine Glaubhaftigkeit verloren hat. Es könnte genauso gut eine völlig andere Familie zeigen, eine per Photoshop manipulierte Version wie die, die man in Elis Kurs zu sehen bekommt.
    Ich hebe das Bild an meine Lippen und küsse das Gesicht meiner Mutter, weil sie das nicht verdient hat, weil sie uns nicht so kreuz und quer auseinandergerissen würde sehen wollen. Und dann zerreiße ich das Abbild unseres vollkommenen Quintetts, ruhig und präzise, in winzige, wunderhübsche Schnipsel, die meinen Teppich zieren wie Konfetti, als würde ich für mich ganz allein eine Party schmeißen. Für den Augenblick lasse ich es genau dort liegen; kann sein, dass ich es morgen wieder zusammenklebe, kann sein, dass ich es morgen in die Mülltonne werfe.
    Ich stehe auf, krabble ins Bett und gleite langsam in den Schlaf.

    Am nächsten Morgen finde ich Tyler – Überraschung!  – schnarchend auf der Couch. Da wären wir wieder. Ich stupse ihn an, und er rollt sich grunzend auf die andere Seite.
    Darcy erwartet mich. Sie wird heute entlassen, und Dante und ich werden sie nach Hause schieben. Der Fernseher läuft immer noch, ohne Ton, und hinter mir zucken die Bilder der Spiele vom Vortag über den Bildschirm. Am unteren Rand laufen Textbänder, als wären Hockeyergebnisse oder eine Basketball-Verletzung tatsächlich die Nachrichten des Tages.
    Ich beobachte Tyler im Schlaf, wie ich es schon so oft getan habe. Die makellose Haut, die kräftigen, runden Wangen, den dichten dunkelbraunen Haarschopf. Ja, er sieht immer noch so aus wie damals, als wir siebzehn waren. Vielleicht ist auch das inzwischen ein Teil des Problems. Nicht dass die Zeit ihn verändert hat, sondern dass sie ihn nicht verändert hat.
    Um mir seine Zukunft vorzustellen, brauche ich keine Vision. Dazu brauche ich auf kein Foto zu starren und mich in die Zukunft zu katapultieren. Ich sehe ihn vor mir, in
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