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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte
Autoren: Alice Munro
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vernünftig verhalten konnten. Er war zu gut. Er wusste über die Geschichte Bescheid, aber nicht über das, was vorging, vor seinen Augen, in seinem Haus, überall. Et war anders als Arthur, denn sie wusste, dass etwas vorging, auch wenn sie nicht verstand, warum; anders als er wusste sie, dass es Menschen gab, denen man nicht trauen konnte.
    Sie sagte doch nichts zu Char. Jedes Mal, wenn sie im Haus war, suchte sie sich einen Vorwand, um in der Küche allein zu sein, damit sie den Küchenschrank aufmachen und auf Zehenspitzen hineinschauen konnte, um die Flasche über die anderen hinweg zu erspähen, um nachzusehen, ob der Pegel gesunken war. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht ein bisschen wunderlich wurde, wie es alte Jungfern tun; ihre Befürchtung war wie die absurden und harmlosen Ängste, die junge Mädchen manchmal haben, dass sie aus dem Fenster springen werden oder ein Baby ersticken werden, indem sie sich in seinen Kinderwagen setzen. Obwohl es nicht ihre eigenen Taten waren, vor denen sie Angst hatte.

    Et betrachtete Char und Blaikie und Arthur, die auf der Veranda saßen und zu entscheiden versuchten, ob sie hineingehen und das Licht anmachen und Karten spielen sollten. Sie wollte sich von ihrer Torheit überzeugen. Chars Haare und auch Blaikies leuchteten in der Dunkelheit. Arthur war jetzt fast kahl, und Ets eigene Haare waren dünn und dunkel. Char und Blaikie kamen ihr vor wie die gleiche Art von Tier – groß, graziös, kraftvoll, von einer gefährlichen Prächtigkeit. Sie saßen getrennt voneinander, leuchteten aber zusammen. Liebende . Kein weiches Wort, wie viele dachten, sondern ein grausames und in Stücke reißendes. Da saß Arthur im Schaukelstuhl mit einer Decke über den Knien, unbedarft wie etwas, dem noch nicht das letzte, notwendigste Fell gewachsen ist. Doch in gewisser Weise waren Menschen wie Arthur die schlimmsten Störenfriede von allen.
    »Ich liebe meinen Liebsten mit einem R, denn er ist rücksichtslos. Sein Name ist Rex, und er wohnt in … einem Restaurant.«
    »Ich liebe meinen Liebsten mit einem A, denn er ist altmodisch. Sein Name ist Arthur, und er wohnt in einem Ascheimer.«
    »Aber Et«, sagte Arthur. »Das habe ich ja gar nicht geahnt. Aber ich weiß nicht, ob mir das mit dem Ascheimer gefällt.«
    »Man sollte meinen, wir sind alle zwölf Jahre alt«, sagte Char.

    Nach der Episode mit dem Wäscheblau wurde Char beliebt. Sie wirkte mit bei den Aufführungen des Amateurtheatervereins und des Oratorienvereins, obwohl sie keine besondere Schauspielerin oder Sängerin war. In den Theaterstücken war sie immer die kalte und schöne Heldin oder die spröde, elegante junge Salondame. Sie lernte rauchen, weil sie das auf der Bühne tun musste. In einem Stück, das Et nie vergaß, war sie eine Statue. Oder vielmehr, sie spielte ein Mädchen, das vorgeben musste, eine Statue zu sein, so dass ein junger Mann sich in sie verliebte und später zu seiner Verwirrung und vielleicht auch Enttäuschung entdeckte, dass sie nur ein Mensch war. Char musste auf der Bühne acht Minuten lang stockstill stehen, in weißen Krepp gehüllt und mit dem edlen, gleichgültigen Profil zum Publikum. Alle fragten sich verwundert, wie sie das fertigbrachte.
    Die treibende Kraft hinter dem Amateurtheaterverein und dem Oratorienverein war ein Highschool-Lehrer, der neu in Mock Hill war, Arthur Comber. Et hatte bei ihm in ihrem letzten Schuljahr Geschichtsunterricht. Alle sagten, er gab ihr Einsen, weil er in ihre Schwester verliebt war, aber Et wusste, es war, weil sie härter arbeitete als je zuvor; sie lernte die Geschichte von Nordamerika, wie sie in ihrem Leben noch nie etwas gelernt hatte. Der Missouri-Kompromiss. Mackenzie zum Pazifik 1793. Sie vergaß es nie mehr.
    Arthur Comber war um die dreißig, mit hoher kahler Stirn, einem roten Gesicht, obwohl er nicht trank (das später bleich wurde), und einer ungeschickten, aufgeregten Art. Er stieß ein Tintenfass von seinem Katheder, so dass auf dem Fußboden des Geschichtssaals ein bleibender Fleck entstand. »Oh je, oh je!«, sagte er, hockte sich zu der zerfließenden Tinte und fuhrwerkte mit seinem Taschentuch herum. Et äffte das nach. »Oh je, oh je!« »Ach, du mein Himmel!« All seine erschreckten Ausrufe und zappeligen Gesten. Dann, wenn er an der Tür mit rotem Gesicht, das vor Eifer leuchtete, ihren Aufsatz in Empfang nahm, ihr und ihrer Arbeit solch Wohlwollen entgegenbrachte, tat es ihr leid. Deshalb arbeitete sie so hart, dachte
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