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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte
Autoren: Alice Munro
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heimgesuchten Hauses. Sie zog eine Grimasse, auch wenn die niemand sah, eines Tages im Park, als Char sagte: »Das war mein kleiner Bruder, der da ertrunken ist.«

    Vom Park aus hatte man Sicht auf den Strand. Sie standen mit Blaikie Noble dort, dem Sohn des Hotelbesitzers, der sagte: »Diese Wellen können gefährlich sein. Vor drei oder vier Jahren ist da ein Kind ertrunken.«
    Und Char sagte – das musste man ihr lassen, sie sagte es nicht tragisch, sondern beinahe amüsiert, weil er so wenig über die Leute in Mock Hill wusste –: »Das war mein kleiner Bruder, der da ertrunken ist.«
    Blaikie Noble war nicht älter als Char – wäre er älter gewesen, hätte er in Frankreich gekämpft –, aber er hatte nicht sein ganzes Leben in Mock Hill verbringen müssen. Er kannte die Einwohner dort nicht so gut wie die Stammgäste im Hotel seines Vaters. Jeden Winter fuhr er mit seinen Eltern nach Kalifornien, mit der Eisenbahn. Er hatte die Brandung des Pazifiks gesehen. Er hatte den Fahneneid geschworen. Seine Umgangsformen waren demokratisch, seine Haut war braungebrannt. Dabei, wenn Menschen zu jener Zeit braungebrannt waren, dann meistens nicht als das Ergebnis von Müßiggang, sondern nur von Arbeit. Seine Haare waren von der Sonne ausgeblichen. Sein gutes Aussehen war fast so bemerkenswert wie das von Char, aber das seine war von Charme korrumpiert, das ihre dagegen nicht.
    Es war die Glanzzeit von Mock Hill und all den anderen Städtchen um die Seen, von all den Hotels, die in späteren Jahren einmal Erholungsheime für Großstadtkinder werden sollten oder Lungensanatorien oder Kasernen der R.A.F., die dort im Zweiten Weltkrieg Piloten ausbildete. Der weiße Anstrich des Hotels wurde in jedem Frühjahr erneuert, ausgehöhlte, mit Blumen gefüllte Baumstämme wurden auf die Geländer gestellt, Töpfe mit Blumen schwangen an Ketten darüber. Krocketbahnen und Schaukeln aus Holz wurden auf den Rasenflächen aufgebaut, der Tennisplatz wurde gewalzt. Leute, die sich das Hotel nicht leisten konnten, junge Handwerker, Verkäufer und Fabrikarbeiterinnen aus der Großstadt, wohnten in einer Reihe winziger Ferienhäuser, verbunden durch Gitterwerk, das die Müllkübel und die gemeinsame Außentoilette verbarg, ganz am Ende des Strandes. Mädchen aus Mock Hill mit Müttern, die ihnen sagten, was sie zu tun hatten, bekamen gesagt, nicht dorthin zu gehen. Niemand sagte Char, was sie zu tun hatte, also ging sie in der grellen Nachmittagssonne auf dem Plankenweg davor spazieren und nahm Et als Gesellschafterin mit. Die Fenster der Ferienhäuschen waren nicht verglast, sie hatten nur hochgeklappte hölzerne Läden, die nachts geschlossen wurden. Aus den dunklen Löchern kamen ein oder zwei undeutliche, traurige oder betrunkene Einladungen, das war alles. Chars Aussehen und Stil zogen Männer nicht an, schüchterten sie vielleicht ein. Während der gesamten Highschool-Zeit in Mock Hill hatte sie keinen einzigen Freund. Blaikie Noble war ihr erster, wenn er denn einer war.
    Worauf lief diese Affäre von Char und Blaikie Noble im Sommer 1918 eigentlich hinaus? Et war sich nie sicher. Er kam nicht ins Haus, jedenfalls nicht öfter als ein oder zwei Mal. Er hatte viel zu tun, arbeitete im Hotel. Jeden Nachmittag kutschierte er einen offenen Ausflugswagen mit einer Markise obendrauf die Uferstraße entlang, damit die Leute sich die Indianergräber und den Kalksteingarten ansehen und durch die Bäume einen Blick auf das gotische Herrenhaus werfen konnten, erbaut von einem Schnapsbrenner aus Toronto und örtlich bekannt als die Grogburg. Er war auch für den Varietéabend verantwortlich, den das Hotel einmal wöchentlich veranstaltete, mit einer Mischung aus lokalen Talenten, mitwirkenden Gästen und eigens für die Vorstellung engagierten Sängern und Komikern.
    Der späte Vormittag schien die Zeit für ihn und Char zu sein. »Komm mit«, sagte Char dann, »ich muss in die Stadt«, und sie nahm tatsächlich die Post mit und ging ein Stück weit um den Marktplatz, bevor sie in den Park abbog. Bald trat dann Blaikie Noble aus der Seitentür des Hotels und kam den steilen Weg heraufgestürmt. Manchmal hielt er sich gar nicht mit dem Weg auf, sondern sprang über den Zaun, um sie zu beeindrucken. Keins davon, weder das Heraufstürmen noch das Springen, machte er so, wie es ein Junge aus der Highschool von Mock Hill gemacht hätte, linkisch, aber natürlich. Blaikie Noble benahm sich wie ein Mann, der einen Jungen nachahmt; er machte
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