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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte
Autoren: Alice Munro
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Sie hatte sich an dem Tag ein Kopftuch umgebunden und sah aus wie eine Zigeunerin, die mich boshaft und freundlich anblitzte, mir drohte, mehr Geheimnisse preiszugeben, als ich ertragen konnte.

    »Hattest du einen Schlaganfall?«, fragte ich missmutig.
    »Was?«
    »Tante Dodie hat gesagt, du hattest einen Schlaganfall.«
    »Nein, ich hatte keinen. Das habe ich ihr auch gesagt. Der Arzt sagt, ich hatte keinen. Aber Dodie meint ja, sie weiß alles. Sie meint, sie weiß es besser als der Arzt.«
    »Wirst du einen Schlaganfall kriegen?«
    »Nein. Ich habe niedrigen Blutdruck. Genau das Gegenteil von den Ursachen für einen Schlaganfall.«
    »Du wirst also gar nicht krank werden?«, fragte ich drängend. Ich war sehr erleichtert, dass sie sich gegen Schlaganfälle entschieden hatte und dass ich nicht die Mutter zu sein brauchte, sie nicht in ihrem Bett waschen und abwischen und füttern musste wie Tante Dodie ihre Mutter. Denn für mein Gefühl war sie es, die darüber entschied, die ihre Einwilligung erteilte. Solange sie lebte, durch alle Veränderungen, die ihr widerfuhren, und nachdem ich die medizinischen Erklärungen für all das, was passierte, erhalten hatte, war mein Empfinden insgeheim, dass sie ihre Einwilligung erteilt hatte. Sie hatte es, für mein Gefühl, für ihre eigenen Zwecke getan: um etwas zu demonstrieren; auch um sich für etwas zu rächen. Mehr, als irgendjemand je verstehen konnte.
    Sie antwortete mir nicht, sondern ging voraus. Wir liefen von Tante Dodies Haus zu dem von Onkel James, auf einem Fußpfad über die buckelige Viehweide, kürzer als der Weg entlang der Straße.
    »Wird dein Arm aufhören zu zittern?«, fragte ich nach, hartnäckig und rücksichtslos.
    Ich verlangte von ihr auf der Stelle, dass sie sich umdrehte und mir versprach, was ich brauchte.
    Aber sie tat es nicht. Zum ersten Mal verweigerte sie sich mir völlig. Sie ging weiter, als hätte sie nicht gehört, ihre vertraute Gestalt vor mir verwandelte sich in etwas Fremdes, Gleichgültiges. Sie entzog sich, sie verdunkelte sich vor meinen Augen, obwohl sie nichts weiter tat als auf dem Pfad weiterzugehen, den sie und Tante Dodie ins Gras getreten hatten, als sie junge Mädchen waren und hin und her liefen, um einander zu besuchen; er war immer noch da.

    Eines Abends saßen meine Mutter und Tante Dodie auf der Veranda und sagten Gedichte auf. Wie das anfing, weiß ich nicht mehr; wahrscheinlich fiel einer von ihnen ein Zitat ein, und die andere ergänzte es. Onkel James lehnte rauchend am Geländer. Weil wir zu Besuch da waren, hatte er sich gestattet, vorbeizukommen.
    »Wie stirbt ein Mann in Würde«, rief Tante Dodie fröhlich.
    »Als gegen Übermacht,
    Zu Ehren seiner Väter
    Und seiner Götter Acht?«
    »Den ganzen Tag lang grollte der Donner dieser Schlacht«, deklamierte meine Mutter,
    »Und hallte von den Bergen am winterlichen Meer.«
    »Wir trugen seinen Leichnam auf die Zinnen,
    Kein Trommelschlag, kein Klagelied erscholl …«
    »Ich gehe nun den langen Weg
    Zum Inseltal von Avalon,
    Das weder Schnee noch Regen kennt …«
        Die Stimme meiner Mutter hatte ein peinliches Zittern angenommen, so dass ich froh war, als Tante Dodie sie unterbrach.
    »Meine Güte, war das nicht alles traurig, was die so in die alten Lesebücher gepackt haben?«
    »Ich hab nichts davon behalten«, sagte Onkel James. »Außer …«, und er deklamierte, ohne ins Stottern zu geraten:
    »Vor rauchig fernen Bergen
    Steht scharlachrot der Wald,
    Aus dem zu dieser Herbstzeit
    Der Ruf des Hähers schallt.«
        »Dein Glück«, sagte Tante Dodie, und sie und meine Mutter fielen mit ein, so dass sie alle zusammen deklamierten und dabei über sich lachten:
    »Der Nebel deckt die Marschen
    Bis an des Wassers Rand,
    Am Himmel ziehen Vögel
    Zu südlicherem Land.«
        »Obwohl, wenn man drüber nachdenkt, klingt sogar das eigentlich traurig«, sagte Tante Dodie.

    Wenn ich hieraus eine richtige Geschichte hätte machen wollen, dann hätte ich sie, glaube ich, damit beendet, dass meine Mutter nicht antwortete und vor mir über die Wiese ging. Das hätte genügt. Vermutlich habe ich nicht da aufgehört, weil ich mehr herausfinden, mich an mehr erinnern wollte. Ich wollte so viel zurückholen, wie ich nur konnte. Jetzt betrachte ich, was ich getan habe, und es ist wie eine Reihe von Schnappschüssen, wie die braun getönten Schnappschüsse mit den gezackten Kanten, die mit dem alten Fotoapparat meiner Eltern aufgenommen wurden. Auf
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