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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte
Autoren: Alice Munro
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während der Chor, mit dem Pfarrer im Gefolge, sich in frommer Gemächlichkeit den Mittelgang hinaufbegab.
    Alles Gute, alles Schöne,
    Alles Leben groß und klein,
    Alle Farben, alle Töne,
    Das schuf Gott der Herr allein .
        Als der Chor Platz genommen und der Pfarrer sich zur Gemeinde umgedreht hatte, schritt meine Mutter kühn aus, um sich zu Tante Dodie und meiner Schwester in eine der vorderen Kirchenbänke zu setzen. Ich sah, dass der graue Unterrock ein Stück weit heruntergerutscht war und an einer Seite schlampig hervorguckte.
    Nach dem Gottesdienst wandte sich meine Mutter um und sprach mit den Leuten. Die wollten meinen Namen wissen und den meiner Schwester, und dann sagten sie: »Die sieht aus wie du.« »Nein, vielleicht sieht diese mehr wie du aus«; oder: »In der hier sehe ich deine Mutter.« Sie fragten, wie alt wir waren und in welche Klasse ich ging und ob meine Schwester schon zur Schule ging. Sie fragten sie, wann sie denn hinginge, und sie sagte: »Ich geh nicht«, was belacht und wiederholt wurde. (Meine Schwester brachte die Leute oft zum Lachen, ohne es zu wollen; sie hatte solch eine entschiedene Art, ihre Missverständnisse kundzutun. In diesem Fall stellte sich heraus, dass sie tatsächlich dachte, sie würde nicht zur Schule gehen, da die Grundschule in der Nähe unseres Hauses abgerissen wurde und niemand ihr gesagt hatte, sie würde mit dem Bus in eine andere fahren.)
    Zwei oder drei Leute sagten zu mir: »Rate mal, wer mich unterrichtet hat, als ich in die Schule kam? Deine Mama!«
    »Sie hat mir nie viel beigebracht«, sagte ein verschwitzter Mann, dessen Hand, wie ich merkte, sie nicht schütteln mochte, »aber sie war die Schönste, die ich je hatte!«

    »Hat mein Unterrock vorgeguckt?«
    »Wie sollte er? Du standest ja in der Kirchenbank.«
    »Aber als ich den Mittelgang hinuntergegangen bin?«
    »Konnte niemand was sehen. Die standen doch immer noch für den Choral.«
    »Sie hätten aber was sehen können.«
    »Mich überrascht nur eins. Warum ist Allen Durrand nicht rübergekommen und hat guten Tag gesagt?«
    »War er da?«
    »Hast du ihn nicht gesehen? Drüben in der Bank der Wests, unter dem Fenster, das für ihre Eltern eingesetzt worden ist.«
    »Ich habe ihn nicht gesehen. War seine Frau da?«
    »Aber die musst du doch gesehen haben! Ganz in Blau mit einem Hut wie ein Wagenrad. Sie kleidet sich sehr elegant. Aber nicht mit dir heute zu vergleichen.«
    Tante Dodie selbst trug einen marineblauen Strohhut mit schlaffen Stoffblumen und ein vorne geknöpftes Kleid aus grob gewebter Kunstseide.
    »Vielleicht hat er mich nicht erkannt. Oder nicht gesehen.«
    »Er muss dich gesehen haben.«
    »Ach.«
    »Und er hat sich zu so einem gutaussehenden Mann entwickelt. Das zählt, wenn man in die Politik geht. Und die Größe. Man erlebt selten, dass ein kleiner Mann gewählt wird.«
    »Was ist mit Mackenzie King?«
    »Ich meine, hier in der Gegend. Den hätten wir hier in der Gegend nicht gewählt.«

    »Deine Mutter hat einen kleinen Schlaganfall gehabt. Sie sagt, nein, aber ich habe zu viele wie sie gesehen.
    Sie hat einen kleinen gehabt, und es kann sein, dass sie noch einen kleinen kriegt und noch einen und noch einen. Dann kann sie eines Tages den großen kriegen. Dann musst du lernen, die Mutter zu sein.
    Wie ich. Meine Mutter wurde krank, da war ich erst zehn. Als sie starb, war ich fünfzehn. In diesen fünf Jahren, was hatte ich da mit ihr für eine Zeit! Sie war total angeschwollen; sie hatte die Wassersucht. Einmal sind sie gekommen und haben sie eimerweise aus ihr rausgeholt.«
    »Was rausgeholt?«
    » Flüssigkeit.
    Sie saß in ihrem Sessel, bis sie nicht mehr konnte, sie musste sich ins Bett legen. Sie musste die ganze Zeit über auf der rechten Seite liegen, damit die Flüssigkeit nicht aufs Herz drückte. Was für ein Leben. Sie hat sich wundgelegen, hat elend gelitten. Also hat sie eines Tages zu mir gesagt, Dodie, bitte, dreh mich mal auf die andere Seite, nur für ein Weilchen, nur zur Erleichterung. Sie hat mich angefleht. Ich habe sie gepackt und umgedreht – sie war vielleicht schwer! Ich habe sie auf die Herzseite gedreht, und kaum hatte ich das getan, ist sie gestorben.
    Weswegen weinst du denn? Ich wollte dich doch nicht zum Weinen bringen! Na, du bist aber ein großes Baby, wenn du’s nicht ertragen kannst, was über das Leben zu hören.«
    Sie lachte mich aus, um mich aufzuheitern. In ihrem hageren braunen Gesicht waren ihre Augen groß und heiß.
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