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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte
Autoren: Alice Munro
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Grips fürs Zuschneiden und Anpassen, wenn man’s richtig macht, als dafür, jemandem was über den Krieg von 1812 beizubringen. Denn wenn man das mal gelernt hat, hat man’s gelernt, und es wird einen nicht verändern. Während jedes Kleidungsstück, das man anfertigt, ein völlig neues Vorhaben ist.«
    »Trotzdem ist es überraschend«, sagte Arthur, »zu sehen, wie du Fuß fasst.«
    Es überraschte alle, nur nicht Et selbst. Ihr fiel die Verwandlung leicht, von einem Rad schlagenden Mädchen zu einer festen Einrichtung der Stadt. Sie vertrieb die anderen Damenschneiderinnen aus dem Geschäft. Es waren ohnehin bescheidene, unbedeutende Geschöpfe gewesen, die zu den Leuten ins Haus kamen, in Hinterzimmern nähten und dankbar für Mahlzeiten waren. Nur eine ernsthafte Rivalin erschien in all den Jahren, und das war eine Finnin, die sich Modeschöpferin nannte. Einige Frauen probierten es mit ihr, weil Frauen nie zufrieden sind, aber bald stellte sich heraus, dass bei ihr der Stil alles war und die Passform nichts. Et sprach nie von ihr, sie überließ es den Kundinnen, es selbst herauszufinden; aber hinterher, als diese Frau die Stadt verlassen hatte und nach Toronto gegangen war – wo, nach dem, was Et auf den Straßen gesehen hatte, niemand ein gut sitzendes Kleid von einem schlecht sitzenden unterscheiden konnte –, tat Et sich keinen Zwang an. Sie sagte zu einer Kundin bei der Anprobe ohne Weiteres: »Wie ich sehe, tragen Sie immer noch das Fischgrät, das meine ausländische Freundin Ihnen zusammengeheftet hat. Ich habe Sie auf der Straße gesehen.«
    »Ja, ich weiß«, antwortete dann die Frau. »Aber ich muss es doch auftragen.«
    »Sie können sich ja gottlob nicht von hinten sehen, also was macht das schon.«
    Die Kundinnen nahmen derlei von Et hin, erwarteten es schließlich sogar. Sie hat ein Schandmaul, sagten sie, Et hat ein Schandmaul. Sie war ihnen gegenüber im Vorteil, hatte sie in Schlüpfer und Korsett vor sich. Damen, die äußerlich recht fest und gebieterisch aussahen, waren hier außer Gefecht gesetzt, kleinlaut, mit den zur Schau gestellten wabbeligen, ins Korsett eingezwängten Hüften, den langen, traurigen Falten zwischen den Brüsten, dem aufgedunsenen, von Kindern und Operationen verunstalteten Bauch.
    Et zog immer die Schaufenstervorhänge zu, verschloss den Spalt mit einer Sicherheitsnadel.
    »Das soll die Männer davon abhalten, zu glupschen.«
    Die Damen lachten nervös.
    »Das soll Jimmy Saunders davon abhalten, herüberzustapfen und sich sattzusehen.«
    Jimmy Saunders war ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg mit einem kleinen Laden gleich neben Et für Zaumzeug und Lederwaren.
    »Ach, Et. Jimmy Saunders hat doch ein Holzbein.«
    »Seine Augen sind nicht aus Holz. Und soweit ich weiß, auch sonst nichts.«
    »Et, Sie sind schrecklich.«

    Et versorgte Char ständig mit schönen Kleidern. Die zwei häufigsten Kritiken an Char in Mock Hill waren, dass sie sich zu elegant kleidete und dass sie rauchte. Als Lehrersfrau stand ihr weder das eine noch das andere zu, aber Arthur ließ sie natürlich tun, was ihr gefiel, und kaufte ihr sogar eine Zigarettenspitze, damit sie aussah wie eine Dame in einer Illustrierten. Sie rauchte auf einem Highschool-Ball, trug ein rückenfreies Abendkleid aus Satin und tanzte mit einem Jungen, der eine Schülerin geschwängert hatte, und all das machte Arthur nichts aus. Er wurde nicht zum Rektor ernannt. Zwei Mal überging ihn die Schulbehörde und holte jemanden von außen, und als er schließlich den Posten erhielt, im Jahre 1942, da war es nur provisorisch, weil so viele Lehrer im Krieg waren.
    Char kämpfte in all diesen Jahren hart, um ihre Figur zu bewahren. Niemand außer Et und Arthur wusste, welche Anstrengungen sie das kostete. Niemand außer Et wusste alles. Beide Eltern waren korpulent gewesen, und Char hatte die Anlage dazu geerbt, auch wenn Et immer dünn wie ein Stock war. Char machte Gymnastik und trank vor jeder Mahlzeit ein Glas warmes Wasser. Aber manchmal ging die Fresssucht mit ihr durch. Et hatte erlebt, wie sie ein Dutzend Windbeutel hintereinanderweg verschlang, ein Pfund Erdnusskrokant oder eine ganze Zitronenbaisertorte. Dann schluckte sie bleich und entsetzt Epsomer Bittersalz, drei oder vier oder fünf Mal mehr als die vorgeschriebene Dosis. Worauf sie zwei oder drei Tage lang an Brechdurchfall litt, dehydriert war und ihre Sünden purgierte, wie Et sagte. In diesen Phasen konnte sie kein Essen sehen. Et musste kommen und
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