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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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feinen hohen Ton. Sie ging, während die Red Hot Chili Peppers sangen, durch die Wohnung, schaltete kurz das Licht an und betrachtete das Durcheinander in Samuels Zimmer. Ein auseinandergebauter Laptop stand auf seinem Schreibtisch, der inzwischen zu klein war für einen Zwölfjährigen. Drähte, Schaltkreise und Teile des Gehäuses waren über den grünen Teppich verteilt. Bei Fine standen die Puppen und Kuscheltiere in Reih und Glied. Immer bevor sie zu ihrem Vater ging, sortierte sie die und wählte dann zwei aus, die sie begleiten sollten.
    Sie zog den Stecker des Radios aus der Dose und ging mit dem Gerät unter dem Arm ins Schlafzimmer. »Ich nehme dich mit ins Bett, Süßer«, sagte sie und hörte dann der Sendung im Liegen zu, und irgendwann kurz nach sechs, nachdem der Umweltminister von Niedersachsen konsequent allen Fragen nach einer Endlagersuche für Atommüll ausgewichen war, schlief sie wieder ein. Das war ihr peinlich und wirkte wie ein Verrat, und noch schlimmer empfand sie es, den Wecker auf halb sieben gestellt zu haben, so als habe sie dieses Einschlafen erwartet.
    »Was machen wir denn als Erstes?«, fragt Paul, während sie an herrschaftlichen Fassaden vorbeifahren. Inzwischen war Astrid in Wien gewesen und erkennt eine Ähnlichkeit, auch wenn sie dieses Grau, das die Budapester Häuser noch reichlich tragen, in die Zeit zurückversetzt, als Wien noch ein ferner Traum war. Sie will nicht in diese Zeit zurückversetzt werden. »Was schlägst du denn vor? Essen, schlafen, vögeln?«, fragt sie zurück. Paul sieht auf den Hinterkopf des Fahrers, der bisher keine Anstalten gemacht hat, mit ihnen zu reden auf Deutsch oder auf Englisch, und lächelt. »Essen ist noch ein bisschen früh. Vielleicht vögeln im Mineralbad?«
    Astrid drückt die Schenkel tiefer in das braune Polster des Wagens. Sie mag es, wenn Paul so mit ihr redet. Dass der Osten freizügiger gewesen sein soll und ungezwungener, hält sie immer noch für einen Witz. In ihrer Familie jedenfalls nicht. Aber wenn Paul irgendwo in einem Restaurant, während er ihr in den Mantel half, ihr sanft und wie nebenbei über den Busen strich und sagte: »Jetzt aber schnell nach Hause«, das machte sie auf eine jugendliche Art verlegen und verrückt zugleich.
    Das Taxi fährt über eine grüne metallene Brücke, und sie sieht durch die vorbeifliegenden Streben auf die Donau, die tief unten liegt, ruhig und breit wie eine Straße und tatsächlich tiefblau. Dann erkennt sie den Schriftzug »Hotel Gellért« auf einem riesigen Kasten am anderen Ufer des Flusses. Wie eine Burg sieht das Hotel aus. Astrid erinnert sich an nichts, nicht an die Brücke, nicht an die Drehtüren vor der Lobby, nur die Donau ist ihr im Gedächtnis geblieben, dieser breite gerade Fluss. »Die fließt auch durch Wien«, hatte sie damals gedacht.
    Auch in der Lobby erinnert sie nichts mehr an das Jahr 1987, obwohl der dunkle Teppichboden und das abgegriffene Holz des Rezeptionstresens nicht so aussehen, als wären sie seit damals ausgewechselt worden. »Do you speak English or German?«, fragt Paul in seinem feinen Englisch, das er während eines einjährigen Schulaufenthalts in Liverpool gelernt hatte. »I speak Hungarian actually«, antwortet der Mann in der dunkelblauen Hoteluniform mit einem Grinsen. Astrid muss sich beherrschen, um Paul nicht in den Rücken zu schubsen und zu sagen: »Siehste, genau so ist der Osten. Die sind es einfach nicht gewöhnt, höflich zu sein. Die haben einfach nie gelernt, wie man sich in so einem Hotel wie diesem benehmen sollte. Man fühlt sich immer so, als wäre man der Bittsteller, egal wie viel wir hier pro Nacht für ihre Flohbude bezahlen.«
    Auch wenn Paul sie eingeladen hat, weiß Astrid, was ein Zimmer im Gellért kostet mit Donaublick oder Blick auf den Gellértberg. Mit Grausen hatte sie die Einträge in verschiedenen Internetforen gelesen. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich immer wieder in diesen alten Kasten fahre. Kein Service, die Zimmer heruntergekommen, das Frühstück wie in einer Jugendherberge, nur der Preis ist hochherrschaftlich«, schrieb eine Uli aus Gütersloh. Paul war ihr mit seinem missionarischen Eifer auf die Nerven gegangen. »Warum denn Budapest«, hatte sie gemault, als er ihr die Reise zum Geburtstag geschenkt hatte. »Ich möchte so gern mal mit dir in den Osten reisen«, hatte er gesagt. »Du kennst dich doch dort aus und sprichst auch Russisch, und wird es nicht mal wieder Zeit, die alten Freunde zu
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