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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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und er stapfte so in das Wasser hinein. Irgendwann musste ich ihn loslassen, weil ich keine Luft mehr bekam, und beim Auftauchen sah ich Katharina am Ufer stehen mit der Kamera. »Wunderbar. Könnt ihr das vielleicht noch einmal machen?« Julius stand im hüfttiefen Wasser, zeigte mit dem Finger auf die Kamera und sagte: »Wenn ich das in irgendeiner Ausstellung sehe, dann rede ich kein Wort mehr mit dir.« – »Da brauchste ja keine Angst zu haben. Ich hab Ausstellungsverbot, mein Großer. Das weißt du doch.«
    Die Fahrt dauerte ewig. Über Neustrelitz, Malchow und Pritzwalk. Wir hatten die Fenster heruntergedreht, und Julius’ offene Haare wehten im Wind. Noch nie hatte ich neben einem Jungen vorne im Auto gesessen. Selbst im Auto meiner Eltern saß ich nur vorn, wenn ich mit meiner Mutter allein unterwegs war. »Warum hast du eigentlich schon einen Führerschein? Hast du Beziehungen gehabt oder was?«, fragte ich Julius. Normalerweise musste man Jahre warten, um die Fahrschule besuchen zu dürfen. Umständlich kramte ich die Schachtel »Club« aus meinem kleinen Rucksack, die Jana mir vor der Abfahrt geschenkt hatte. Ich rauchte nur selten, wenn ich unsicher war und etwas zum Festhalten brauchte. Julius sah verächtlich auf die »Club« und zog seine »Alten Juwel« aus der Hosentasche, die kleiner waren als meine und ganz verknittert. Er warf sie mir rüber. »Machste mir eine davon an?« Vor uns fuhr ein dicker alter knatternder Bus, den Julius nicht überholen konnte, und zwei kleine Jungs, die auf der Rückbank knieten, schnitten uns Grimassen durch das ovale Rückfenster. Ich zündete erst Julius’ Zigarette an und dann meine und achtete darauf, dass mir der Rauch nicht in die Augen stieg wie meistens. Aber es gelang, und ich steckte Julius die Zigarette zwischen die Lippen und streichelte seine Wange. Er sagte: »Die Fleppen hat mein Vater bezahlt über Genex. Ich musste gar nicht warten. Konnte direkt anfangen nach meinem 18. Geburtstag. Du kriegst fast alles über Genex. Es ist eigentlich ein Wunder, dass er mir den Abiturplatz nicht mit Westgeld bezahlen konnte. Er wollte mir auch ein Auto schenken, einen Lada. Wollte Katharina aber nicht. Ich hätte das gar nicht so schlecht gefunden, dann könnte man zum Beispiel Busse überholen.«
    Es gab verschiedene Arten, wie Julius auf meine Fragen antwortete. Manchmal antwortete er gar nicht und oft nur mit ein, zwei Sätzen, aber ich hatte so viele Fragen. »Und wieso kann dein Vater eigentlich in die DDR kommen, wenn er doch abgehauen ist? Hat der gar keine Angst, dass sie ihn hier einsperren?« – »Mein Vater ist 1967 abgehauen, aber es gab eine Amnestie. Alle, die vor 1973 weg sind, dürfen wieder in unser kleines Paradies kommen. Die danach die Biege gemacht haben, müssen draußen bleiben.« 1967 war Julius ein Jahr alt. Er hatte seinen Vater also erst nach 1973 kennengelernt. Wenn überhaupt. Da war er sechs Jahre alt. Danach fragte ich vorsichtshalber nicht auch noch, sondern warf die Kippe aus dem Fenster, zog meine Unterlider mit den Händen hinunter, verdrehte meine Augen und streckte den beiden Kindern im Bus die Zunge raus. Sie lachten und verschwanden für einen Moment.
    Als wir das Auto in Wittenberge abstellten zwischen den Wohnblocks, wo Julius’ Großmutter wohnte, sah er zu mir rüber und sagte: »Zwei Tage, und dann haust du wieder ab, ohne jede Diskussion.« Ich umfasste seinen Nacken, küsste ihn und sagte: »Pionierehrenwort.« Es roch merkwürdig in Wittenberge. Schwer und schwefelig, und es kam mir vor, als ob die Luft dichter war als zu Hause. Wie zusammengepresst. Wir gingen den letzten Aufgang des zweiten Wohnblocks hoch. Ich mochte diese Neubautreppenhäuser, die immer wirkten, als wenn sie zu klein geraten wären für die klotzigen Häuser. Bei Janas Eltern am Datzeberg in Neubrandenburg gab es einen wackeligen Fahrstuhl, aber dafür waren diese Blocks hier mit ihren fünf Stockwerken zu klein. Julius sprang vor mir die Treppen hoch, und ich lief hinterher.
    Auch die Oma war klein, ich überragte sie um einen halben Kopf, und das passierte mir nicht oft. Sie machte die Tür auf und schob ihre große braune Brille zurecht. »Da seid ihr ja«, sagte sie freundlich. »Das ist Assi, Herminchen. Kannste ›du‹ sagen«, sagte Julius und schob mich in einen Flur, der vielleicht zwei Meter lang war. Drei Türen gingen von ihm ab, und an der Wand hing eine hölzerne Garderobe mit einem eingefassten geschliffenen Spiegel. Ich sah mich
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