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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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seit Jahren in keinem Land ohne Eurowährung mehr gewesen und hatte in heller Vorfreude 100 Euro in einen Haufen Forint umgetauscht. Der junge Mann schiebt ihr einen Zettel zu und sagt lachend über ein schepperndes Mikrofon: »Pay the driver, not me«, und Astrid kommt sich dusselig vor.
    »Das ist so typisch für dich«, hatte Vera gesagt, als sie ihr von Paul erzählt hatte noch vor dem gemeinsamen Essen. »Du kennst den gar nicht, aber bei dir landet der im Bett.« – »Wir waren noch gar nicht im Bett.« – »Das ist doch ganz egal. Lange wird es wohl nicht mehr dauern, oder?«
    Paul ist im Radio zu hören jeden Morgen, aber Astrid kannte ihn nicht. Seit Jahren hatte sie morgens kein Radio mehr gehört, seit Tobias ausgezogen war vor drei Jahren. Sie mochte keine Musik und keine Gespräche in der halben Stunde Frühstück mit den Kindern. In der halben Stunde, in der sie zu dritt saßen, jeder vor seinem Teller und jeder in seinen Gedanken, und nur Fine, die Kleine, die Achtjährige, manchmal einen Plapperanfall bekam. So nannte Samuel das, und sie grinste ihrem Sohn verstehend zu und versuchte dann, Fines Träumen oder Sorgen mit den Schulfreundinnen zu folgen. Und in den Tagen, wenn die Kinder bei Tobias waren, stand Astrid so auf, dass sie gerade noch duschen konnte, kaufte sich einen Kaffee und ein Croissant in der Bäckerei zwei Häuser weiter und nahm ihr Frühstück in der U-Bahn Richtung Schöneberg. Wie also sollte sie Paul kennen?
    »Oliver hört den jeden Morgen, wenn der moderiert«, hatte Vera gesagt. »Der schwärmt richtig für den. ›Das ist keiner von diesen Doppelidioten, die sich zu zweit durch den Morgen blödeln und sich nur die Bälle zuwerfen.‹ Paul Schneider, meint mein Mann, sagt die Zeit an, knurrt den Musiktitel, und dann nimmt er irgendeinen Politiker in die Mangel, bis der anfängt zu stottern.«
    Das Taxi fährt Richtung Innenstadt über eine Autobahn. Im wuchernden Gras daneben stehen Werbetafeln. OBI, Aldi, Rossmann. Sie sind alle schon da, und es ist eine Illusion, zu glauben, in der Fremde zu sein. Immerhin ist das Geld hier noch ein anderes als der schwächelnde Euro, den Astrid erst verflucht hatte ob seiner Gleichmacherei und dann mit großer Selbstverständlichkeit aus Geldautomaten zog in Wien oder Neapel. Ohne weiter darüber nachzudenken. Pauls Hand liegt auf ihrem Oberschenkel, und er hängt seinen Gedanken nach, blickt aus dem anderen Autofenster. Sie denkt an das Gellért Hotel und daran, dass es lange Zeit für sie der Inbegriff von einem Luxushotel war. Mit Blick auf die Donau und mit einem Thermalbad wie aus dem Märchen. So hatte sie sich damals dort gefühlt, wie eine Prinzessin, im Sommer 1987. »Das Thermalbad war öffentlich, da konnte jeder rein«, hatte sie Paul erklärt, und der zeigte auf seinen Reiseführer und sagte: »Das ist immer noch so.« Astrid erzählte nichts von der halben Nacht, die sie damals im Zimmer 310 verbracht hatte mit Julius. Das ist lange her.
    Als sie Paul dann das erste Mal im Radio hörte, versuchte sie ihn sich vorzustellen in einem Studio, vor einem Mikrofon und mit Kopfhörern auf den Ohren. Sie kannte gar kein Radiostudio, hatte nur welche im Fernsehen gesehen, aber sahen Studios tatsächlich so aus wie in diesen Filmen? Paul hatte ihr erzählt, dass er früher, während ein Musiktitel lief, oft rausgegangen ist auf die Toilette, um eine Zigarette zu rauchen. »Bevor du mir das verboten hast.«
    »Ich habe dir gar nichts verboten. Ich will deine Liebe sein und nicht deine Ärztin, du darfst tun, was du für richtig hältst«, hatte sie gesagt und dann doch hinterhergeschoben: »Für deine Kranzgefäße ist es allerdings sicher empfehlenswert.« Darüber hatte sie sich noch geärgert, dass sie das hinzufügen musste, wie unter Zwang.
    Sie hörte also Pauls Stimme aus dem Radio in der Küche, zog sich einen Stuhl vor das Gerät und glaubte die Müdigkeit zu hören, mit der Paul seine Hörer begrüßte. »Es ist fünf Uhr sechs, sechs Minuten nach fünf.« Astrid zog die Füße auf die Sitzfläche des Stuhles, umschlang ihre Knie, legte den Kopf darauf und versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, sein Grübchen in der linken Wange und sein schmales Kinn, aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie hatte sich extra einen Wecker auf fünf Uhr gestellt, und es war fast gespenstisch um diese Zeit allein in ihrer Wohnung. Die Kinder waren bei Tobias, und wie immer, wenn das so war, hörte sie die Leere aus ihren Zimmern wie einen
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