Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
Vom Netzwerk:
vor der Bühne, und hinter uns hing die Sonne, die zur Hälfte schon in den See getaucht war. Neben mir stand ein junges blondes Mädchen, das gerade schwimmen gewesen war. Sie trug noch ihr hellblaues Bikinioberteil und ein langes Handtuch um die Hüfte, ihre Achseln waren rasiert, und sie war noch tropfnass und sah so schön aus, dass ich sie anstaunte wie eine Statue. Julius hatte die Gitarre umgeschnallt, ein Punk stand am Bass, und der andere saß hinterm Schlagzeug, und auf einem kleinen Podest aus vier Bierkästen und ein paar Brettern stand Katharina. Sie trug jetzt ein schwarzes knielanges Kleid mit einem breiten roten Gürtel und wieder den Strohhut, der offensichtlich getrocknet war. »Diese jungen Herren hier sind so freundlich, mich zu begleiten«, sagte sie. »Wie ihr ja wisst, darf ich nicht mehr ausstellen, und immer nur Pappwände zu bemalen im Theater ist mir auch zu langweilig, und deshalb habe ich ein paar Texte geschrieben und singe jetzt. Natürlich leider eher für mich, weil ich ja auch nicht auftreten darf, aber heute Abend doch für euch. Fühlt euch geehrt.«
    Es war absolut ruppige Musik, und Katharina stand nicht lange auf den Bierkisten, sondern rannte über die Bühne. Sie schrie und stöhnte in das Mikrofon, und die beiden Punks bearbeiteten ihre Instrumente, als ob es Holzstücke wären. Nur Julius stand etwas abseits und spielte fast bewegungslos die Melodie, hinter der alle herrasten.
    Wir sind hier
    Und wir bleiben hier
    Und ich kann nicht mehr und geh weiter
    Wir sind hier
    Und wir bleiben hier
    Und ich fühl mich taub und bleib heiter
    Monotonie, Monotonie, Monotonie
    schrie Katharina in das quietschende Mikrofon. Die Sonne war inzwischen ganz versunken, und trotzdem stand noch ein Streifen Licht über dem See. Ein paar Jungs begannen zu pogen vor der Bühne. Ich hasste das, weil man dann immer etwas in die Rippen bekam, einen Ellenbogen oder eine Stiefelspitze, und manchmal dachte ich, dass die das nur machen, um überhaupt die Mädchen zu berühren.
    »Julius sieht mich nicht mal an«, sagte ich später zu Jana, als wir nach dem Konzert an einer langen Tafel im Garten saßen. Dichtgedrängt nebeneinander. Alle tranken Bier und Wein und Schnäpse. Wie verrückt. »Rühr dich nicht, sag ich dir. Der kommt schon noch«, flüsterte Jana mir zu und strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen mit dem kahlen Schädel und der Nickelbrille zu, der mir vorhin erklärt hatte, dass er Gedichte schreibe, um Gottfried Benn nah zu sein und um Mädchen ins Bett zu bekommen. Katharinas Texte fand er grauenhaft. »GRAUENHAFT«, sagte er noch einmal laut, und dabei sah er mich schon nicht mehr an. Jetzt war sein Gesicht ganz nah vor Janas, und er blies ihr beim Reden den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht.
    Wir waren eingequetscht zwischen den Theaterleuten aus Anklam, und die Hand des verbannten Regisseurs lag schon geraume Zeit auf meinem Hintern, obwohl er nicht mal mit mir redete. Mir gegenüber saßen zwei ältere Frauen, die mir schon bei ihrem Erscheinen aufgefallen waren. Die eine hatte ein rundes Gesicht und raspelkurze Haare, von denen einige grau waren, und die andere war groß und stämmig und trug ein rotes Tuch wie ein Pirat. Katharina hatte sie umarmt bei der Begrüßung, und sie waren im Kreis umhergesprungen und hatten gekreischt wie Kinder.
    Julius stand auf am anderen Ende der Tafel, ging zur Bühne und schaltete den Verstärker an. Er hockte sich auf die Bierkästen und spielte vor sich hin. Tom Waits, Bob Dylan, die Stones, und ich wusste das nur, weil es ab und zu jemand am Tisch erwähnte. Aber es gefiel mir, wie er da saß im Halbdunkeln, die Sterne über sich, und spielte. Julius gefiel mir immer mehr, und mein Herz begann schneller zu schlagen jedes Mal, wenn ich Richtung Bühne blickte.
    Die Nacht verging, es wurde getanzt, und ich hatte mir irgendwann meine Jeans und einen Pullover aus dem Rucksack geholt und übergezogen wie eine Rüstung. Jana tippte sich mit dem Finger an die Stirn, bevor sie mit dem Dichter Richtung Wald verschwand. Der eine Punk, der kleine mit der Sicherheitsnadel in der Backe, kam auf mich zu gewankt. Seine Haare waren in sich zusammengefallen, und er versuchte sie mit ein paar Handbewegungen wieder nach oben zu bringen. Er sah mich an und sagte: »Willst du ficken, ich könnte mir vorstellen, du könntest es auch brauchen.« Wie ein kleines Mädchen lief ich vor ihm weg, ich schämte mich richtig dafür.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher