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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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werden. Völlig absurde Vorstellung heute.«
    »Steck dir doch eine an, mal sehen, was passiert.«
    Paul legt seine hohe Stirn in Falten. Seine Ohren liegen sehr eng am Kopf an. »Dann werde ich wahrscheinlich erschossen. Außerdem habe ich natürlich gar keine Zigaretten dabei. Ich bin Nichtraucher, auf ärztlichen Rat nur und gegen meinen Willen, aber ich bin Nichtraucher. Was gibt es denn für Zigaretten in Budapest? Mensch, wie ich das geliebt habe. MS in Italien, Parisienne in der Schweiz, Gitanes in Frankreich. Das war Urlaub für die Lunge.«
    An diesem Abend mit Vera und ihrem Mann Oliver hatte Paul kaum geredet, und Astrid war davon überrascht gewesen. Sie saßen sich gegenüber an einem dunklen blanken Holztisch. An den Wänden hingen Fliesen, auf denen verschiedene Fischmotive abgebildet waren. Vera redete gestenreich von ihrer Arbeit als Lehrerin, über die Schule und ihren dämlichen Chef. Sie redete wie aufgezogen, während Paul schwieg. Oliver, dessen volles rotbraunes Haar immer zu einem akkuraten Seitenscheitel gekämmt ist, lächelte Astrid ab und zu an und warf etwas Beschwichtigendes in Veras Redeschwall wie: »Ach komm, du machst es schlimmer, als es ist«, aber diese Sätze wurden weggespült wie Treibholz in einem Fluss. Paul aß sein Bœuf bourguignon. Er war nicht unhöflich still, er hielt sich nur merklich zurück, fragte an den richtigen Stellen nach, und Astrid merkte, während sie das feststellte, wie wichtig ihr Veras Meinung war, wie wichtig es ihr war, dass Vera und auch Oliver ihn mögen, und sie dachte: »Hört das denn nie auf, und ist es nicht einfach genug, wenn er mir gefällt?« Dann griff sie nach seiner großen, weichen linken Hand, die ruhig neben dem Teller gelegen hatte, und hielt sie fest. Er sah sie kurz an und ließ sie gewähren, zog die Hand nicht weg und sagte: »Ich würde das keine Woche überleben an so einer Schule, und nie allein.«
    »Das war das Schärfste«, hatte Vera hinterher zu ihr am Telefon gesagt, als sie längst wieder zu Hause war, allein und ohne Paul, weil der am nächsten Morgen Frühdienst hatte. Bei diesem Telefongespräch, bei dem Vera auch Pauls Äußeres bewertet hatte, sagte sie: »Das war das Schärfste, als du einfach seine Hand genommen hast wie so ein Scheißbackfisch, und er guckt dich nur kurz an mit seinen blauen Augen. Mensch, da war ich so neidisch. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.« Doch Astrid konnte sich das vorstellen. Sie kannte die Probleme zwischen Vera und Oliver in- und auswendig.
    Paul läuft vor ihr und zieht einen kleinen schwarzen Rollkoffer hinter sich her, vorbei an den Wartenden vor dem Gepäckband. In Berlin hatte er ihr vor dem Gate sitzend lang und breit die Vorzüge seines Handkoffers erklärt und wie wichtig es wäre, einen mit vier Rollen zu kaufen, damit man den auch im aufrechten Zustand locker und leicht schieben konnte. Das waren seine Worte gewesen: »locker und leicht«, und Astrid hatte ihm fasziniert dabei zugesehen, wie er aufgesprungen war und vor der großen Scheibe, hinter der das graue Rollfeld von Berlin-Schönefeld lag, seinen kleinen Koffer hin und her schob. Astrid war das alles völlig egal. Ihrer war klein und gräulich, und seine zwei Rollen machten einen irren Lärm. Sie hatte ihn gekauft, als Samuel das erste Mal mit dem Kindergarten in ein Ferienlager fuhr. Das war also mehr als sechs Jahre her. Fasziniert war sie nur davon, wie sich Paul in so etwas scheinbar völlig Unwichtiges hineinsteigern konnte, wie er erst ganz spät merkte, dass sie das überhaupt nicht interessierte, und seinen Vortrag schloss, indem er sich neben sie auf den Sitz fallen ließ und sagte: »Was rede ich denn da eigentlich, Frau Doktor.«
    Der Flughafen in Budapest ist klein, und sie durchqueren die Halle schnell. »Wie kommen wir in die Stadt?«, fragt Paul und richtet den Blick eines Kindes auf sie.
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Immerhin warst du schon in Budapest.«
    »Jetzt fang nicht wieder damit an. Das ist zwanzig Jahre her! Fünfundzwanzig fast. Da sind wir natürlich mit dem Zug angekommen. Anderthalb Tage hat die Fahrt gedauert. Nicht anderthalb Stunden.« Astrid hat es bisher genossen, ohne Kinder zu reisen, sich nur um sich zu kümmern, und sie will das nicht so schnell aufgeben. Das kleine Taxihäuschen entdeckt sie eher als Paul. »Hotel Gellért«, sagt sie in das Gesicht des jungen Mannes hinter der Scheibe und öffnet das Portemonnaie mit den unbekannten Geldscheinen darin. Sie war
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