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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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wie man einen Achtzehnjährigen allein in so eine Aktion schicken kann. Einen »grünen Jungen« hatte Astrid Sascha genannt.
    »Vater war eben so«, hat Sascha vorhin in Józefs Küche gesagt, als wäre damit alles erklärt. »Der ist immer volles Risiko gegangen und hat mir damals nur gesagt: ›Mach dir keine Gedanken. Die werden nicht schießen. Es gibt keine Minen mehr in Ungarn oder so was. Und wenn die euch schnappen, dann kauf ich euch raus.‹ Und ich habe ihm das geglaubt. So als würden für ihn diese Gesetze nicht gelten. Als hätte er immer noch ein Ass im Ärmel.«
    Margarete parkt das Auto unter einer großen Kastanie. Sie steigt aus und öffnet die hintere Klappe um Józef rauszulassen. Der springt hinaus, streckt sich und hält sein Gesicht in die Abendsonne. »Fast schon Sommer«, denkt Astrid und steigt auch aus dem Auto. Ihr linkes Bein ist eingeschlafen. Sie springt hoch und geht ein paar Schritte. Ihr Fuß kribbelt, schon als Kind fand sie das angenehm und unangenehm zugleich.
    Die anderen stehen um Józef herum, der jetzt auf der Ladefläche des Autos hockt und eine Zigarette dreht. »Was it here?«, fragt er in Julius’ Richtung, und der zuckt die Schultern. Sascha lehnt am Stamm der Kastanie und sieht über das angrenzende Feld Richtung Horizont. Dann guckt er auf die Karte, die er im Auto auf seinen Knien gehabt hat, und sagt: »Kann schon sein.« Er sieht seinen Bruder an. »Weißt du noch, wie das Dorf hieß, das auf der anderen Seite war?« Julius lässt sich eine Zigarette von Józef geben, zündet sie an und sagt, während er den Rauch ausstößt. »Keine Ahnung. Ich weiß nur noch, dass es da einen Laden gab und dass etwas auf Kyrillisch dran stand. Ich habe mich noch nie so über kyrillische Buchstaben gefreut, das könnt ihr mir glauben.«
    »Horgoš heißt das hier«, sagt Sascha. »Das könnte es gewesen sein. Oder Hajdukovo. Das könnte auch sein, vielleicht war das aber auch das Dorf, in dem Vater gewartet hat.« Er guckt wieder über das Feld, und Astrid sieht die vielen roten Mohnblumen darin. Schon auf der Fahrt hierher waren ihr die Blumen aufgefallen. Überall. Manche der Felder hatten riesige Inseln. Voll mit Mohn.
    Sie pflückt eine der Blumen, dann noch eine und beginnt einen Strauß zu stecken. »Und Karin?«, hatte sie Julius vorhin im Auto gefragt. »Na, ich dachte, du würdest mich vor der retten. Aber dann warst du nicht in Westberlin, die Mauer fiel, und sie stand in Hamburg wieder vor meiner Tür. Ich hatte sogar eine Freundin damals. Die habe ich einfach weggejagt. Aber nach ein paar Wochen war alles wie vorher mit uns. Grausam.« Er hatte die Sätze seitlich aus dem Autofenster gesagt, sie dann aber wieder angesehen.
    »Hat dir deine Mutter eigentlich erzählt, dass sie mich damals nach dem Mauerfall besucht hat?«
    »Meine Mutter hat mir immer alles erzählt. Manchmal mehr, als ich wissen wollte.«
    »Und hattest du da gar keine Lust, mich wiederzusehen? Ich meine, wo du nun wusstest, wo ich wohne?«
    »Nein, das war vorbei. Das hat mich einfach nicht mehr interessiert.« Er sah dabei wieder aus dem Fenster, und dieses Mal blieb sein Blick dort.
    Józef verschwindet im Unterholz, und als Astrid Margarete fragend ansieht, macht sie eine wischende Bewegung vor dem Gesicht. Sascha sieht Paul an und dann Astrid. »Ich merk das immer noch. Also hier merk ich das schon noch wieder.« Er zieht sein Sakko über und dann gleich wieder aus: »Doch zu warm«, sagt er und geht einen Schritt auf das Feld zu. »Wir sind in so einen Weg rein wie hier und haben gehalten. Aber vorher gab es ja schon eine Kontrolle. Ich weiß nicht, vielleicht zehn Kilometer vor der Grenze. Das wussten wir. Vater und ich waren das mehrmals abgefahren. Dieser Vorposten hat einen immer durchgewinkt. Die haben nicht einmal nach den Pässen gefragt. Aber als ich hier mit Julius ankam, da war das anders.«
    Paul stellt sich neben Astrid. Er hebt ihren Arm mit den Blumen zu seinem Gesicht und riecht daran. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter wie vorhin im Auto bei Julius. Sascha deutet auf seinen Bruder und sagt: »Da gab es so ein Bett in diesem Wohnmobil, und unter der Matratze war Platz genug, um sich zu verstecken. Julius lag darunter, und ich bin auf die Grenze zugefahren. Es war stockdunkel. Ich fuhr Schritt und auf einmal leuchtet der mich an und bedeutet mir mit der Hand anzuhalten.« Sascha hebt die Hand in die Luft. Paul sagt: »Na ja, ein Achtzehnjähriger alleine im Dunkeln in einem
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