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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre
Autoren: Gregor Sander
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Augenblick in Józefs Küche die Augen verdreht, sodass nur Paul es sehen konnte. Sie wollte weg von den Brüdern, Paul hatte das gespürt, und als er sie jetzt im Auto neben Julius sitzen sieht, wie sie den Kopf an dessen Schulter lehnt und auf sein Smartphone sieht, um sich anhand der Fotos sein Leben erklären zu lassen, da bereut er diese Fahrt trotzdem nicht. »Nein, das ist der Kleinste«, sagt Julius, »die beiden Kleinen sind Jungs.« Er sieht kurz auf in Pauls Gesicht und dann wieder auf den Bildschirm vor sich. Astrid bemerkt Pauls Blick gar nicht, er sagt zu Margarete: »Was ich erstaunlich finde ist, dass einem das alles als Tourist gar nicht auffällt. Ich meine, ich hatte Fahnen erwartet oder Orbán-Bilder überall. Aber das ist gar nicht so.«
    Margarete hat den Sitz dicht an das Lenkrad gezogen. Sie schlägt sich mit der linken Hand an die Stirn und sagt: »Das glaube ich dir, dass ihr nichts merkt, aber wenn du Ungarisch verstehen würdest, dann wüsstest du, dass die Menschen über nichts anderes reden als über die Bösen. In der U-Bahn oder in der Kneipe. Zumindest in Budapest. Die Bauern im Osten wählen die Bande ja auch noch.« Sie sieht ihn durch ihre kleine eckige Brille an. »Im letzten Jahr waren wir sogar EU-Ratspräsidenten, aber euch interessiert das alles einen Dreck. Berichtet dein Radiosender überhaupt über Ungarn?«
    »Na ja, sagen wir mal Ägypten oder der G8-Gipfel sind schon wichtiger. Oder die gute alte Finanzkrise.«
    »Alle reden immer nur über das Geld. Aber das hier in Ungarn hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Weißt du, wovon wir leben? Wir machen unseren Doktor.« Sie lacht auf. »Józef und ich und alle unsere Künstlerfreunde. In Ungarn macht man auch als Künstler seinen Doktor und ist abhängig von der Kunsthochschule. Von dort kommt das Geld. Und wer bestimmt den Leiter der Schule?« Sie sieht Paul erwartungsvoll an, und als der »Fidesz?« sagt, brüllt sie fast: »Genau. Und über Museumsankäufe entscheidet: Fidesz. Jetzt wollen sie sogar ein Tabakmonopol gründen. Dann darfst du deine Zigaretten nur noch in bestimmten Kiosken kaufen. Und wer bekommt die Lizenzen für diese Kioske?« Sie starrt geradeaus auf die Autobahn und sagt, ohne eine Antwort abzuwarten: »Richtig. Die Fideszpartei. Dann quarzen wir diesen Arschlöchern, diesen Nationalisten und Rassisten auch noch die Parteikasse voll.«
    Paul sieht aus dem Fenster und weiß nicht, was er sagen soll. Immer wieder hatte er Beiträge zu Ungarn in seiner Morgensendung angesagt, und immer ging es tatsächlich auch um Dinge wie die, über die sich Margarete gerade erregt. Draußen zieht eine unspektakuläre flache Landschaft vorbei. Wald, ein paar kleine Dörfer, Felder, deren Korn schon hoch steht. Es sieht fast aus wie in Niedersachsen.
    Bei Szeged verlässt Margarete die Autobahn und fährt eine schmale Teerstraße auf die serbische Grenze zu. Paul verkneift sich, zu sagen, dass er Szeged nur als Gulasch in der Kantine kennt, auch weil Margarete von der Stadt zu schwärmen beginnt. »Das ist meine ungarische Lieblingsstadt. Nach Budapest natürlich. Habt ihr damals hier gehalten?«
    »Nein«, sagt Sascha von hinten. »Wir haben nur einmal auf einem Parkplatz gewartet, bis es dunkel wurde. Julius hat noch versucht, im Wohnmobil zu schlafen, aber er war zu aufgeregt.« Saschas massiger Oberkörper schiebt sich nach vorn zwischen die Rücklehnen der Vordersitze. »Guck mal, da rechts geht ein Weg ab. Fahr mal dort ab!«
    Während der Wagen über einen Feldweg holpert, denkt Paul, dass sich der Fluchtplan so einfach anhört und gleichzeitig auch wie ein Witz: Sascha und sein Vater hatten in Österreich ein Wohnmobil ausgeliehen und waren damit nach Ungarn gefahren. Hatten sich zwei Tage in Ungarn herumgetrieben, die Grenzanlagen angesehen und waren dann wieder zurück nach Jugoslawien gefahren. Dort haben sie den Fluchtplan ausbaldowert. Drei Tage später, als sie wussten, dass Julius in Ungarn angekommen sein musste, fuhr Sascha allein nach Budapest, um ihn abzuholen. Der Vater hatte gemeint, dass es sicherer sei, wenn er auf der jugoslawischen Seite warte. Für den Fall der Fälle, dass seinen Söhnen doch etwas passieren würde. Dann musste er reagieren können, und es war besser, wenn er nicht auch noch in einem ungarischen Gefängnis landen würde. Oder am Ende ausgeliefert werden würde an die DDR. Trotzdem ist Paul dieser Gedankengang völlig fremd. Auch wenn er keine Kinder hat, versteht er nicht,
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