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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah
Autoren: James Kimmel
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Luas mich führte, befand sich eine große Veranda mit einer weißen Balustrade und breiten grünen Stufen. An der Decke hing eine achteckige Lampe, die Lichtpunkte auf die Wiese warf. Das Haus erinnerte mich an das meines Ururgroßvaters am Brandywine River im Norden von Delaware. Auch seines war mit bedrohlichen viktorianischen Türmchen, Giebeln und hübschen Schnitzereien entlang der Dachkanten und der Verkleidung verziert wie so viele große Häuser aus den 1920er Jahren. Alles daran war massiv und für die Ewigkeit gedacht, ein Bollwerk gegen Schicksal und Zeit – die schweren Back- und Natursteine, das Schieferdach, die hohen Fenster und Decken, die dicken Säulen der Veranda und die robusten Messingknäufe.
    Auf der Veranda stand eine alte Frau, die uns aufgeregt zuwinkte. Luas drückte meine Hand und half mir die Veranda hinauf.
    »Unser Gast ist endlich eingetroffen, Sophia«, verkündete er.
    Sie umarmten sich höflich, wie ältere Paare dies zu tun pflegen. Ich rechnete schon damit, dass die alte Frau losschreien würde, wenn sie merkte, dass ihr Mann eine nackte, blutverschmierte Frau mit nach Hause gebracht hatte, die nicht einmal halb so alt war wie er. Doch sie tat so, als wäre sie den Anblick solcher Gäste gewohnt. Sie kam auf mich zu und umarmte mich, ohne darauf zu achten, dass ihr blaues Kleid aus Chamois Flecken bekam, bevor sie sich ein Stück zurücklehnte, um mein Gesicht sehen und meine Wangen streicheln zu können.
    »Danke, Luas. Vielen Dank«, sagte sie atemlos und weinte beinahe.
    Luas zwinkerte mir zu und ging, eine Spur aus blutigen Schuhabdrücken hinterlassend, die Stufen wieder hinunter in die Dunkelheit, aus der wir gekommen waren.
    Die sind offenbar wahnsinnig, dachte ich.
    Sophia hatte ein urtümliches mediterranes, ausdrucksvolles und stolzes Gesicht mit kantiger Stirn und dünnen Lippen. Ihr mattes graues Haar hatte sie zu einem Dutt zusammengebunden, und sie sprach mit italienischem Akzent.
    »Oh, Brek«, flüsterte sie. »Mein liebes, liebes Kind.«
    »Nana?«
    Ich hauchte den Namen mit einem leisen Winseln. Eine Sammlung alter Fotografien fiel mir ein – das Gesicht meiner Urgroßmutter, Sophia Bellini, meiner Nana. Sie war an einem Schlaganfall gestorben, als ich vier Jahre alt gewesen war.
    »Ja, mein Kind, o ja«, antwortete sie.
    Meine frühesten Erinnerungen an sie stammten von ihrer Beerdigung. Ich hatte einen Aufstand gemacht, weil meine Mutter von mir verlangt hatte, Nana Bellini im offenen Sarg zum Abschied zu küssen. Ich erinnerte mich an die Ohrfeige meiner Mutter und daran, dass Nana ihre Augen nicht geöffnet hatte und ihr Lächeln auf ihrem ernsten, kranken Gesicht starr geblieben war.
    »Nana?«
    »Ja, Kind«, antwortete sie erneut und zog mich an sich. »Willkommen zu Hause.«
    Ich lächelte und löste mich aus ihrer Umarmung.
    In jedem Alptraum erreicht man einen Moment, in dem der Unglaube unerträglich wird und man sich entscheiden muss, ob man aufwachen oder das Drama mit dem tröstenden Gedanken fortsetzen will, dass es schließlich nur ein Traum ist.
    Ich ging um Nana, die Illusion, herum und strich mit den Fingern über die weiße Säule gleich oberhalb der Stufen. Dort standen meine Initialen – B. A. C. –, mit einem Nagel eingeritzt an einem Nachmittag im August, als ich auf der Veranda gesessen, Eistee getrunken und mich gefragt hatte, wann der Sommer endlich enden und die Mittelschule beginnen würde. Der Geruch von Mottenkugeln und Knoblauch, der aus der Küche strömte, war ebenso typisch für das Heim meiner Großeltern wie der Duft von Flieder für den Spätfrühling. Die Fliegengittertür quietschte zweimal wie immer, und auf der Waschkommode im Flur standen unsere Familienbilder.
    »Ich träume«, sagte ich zu Nana. »Der Traum ist wirklich seltsam.«
    Sie verzog ihr Gesicht zu dem gleichen wissenden Lächeln, mit dem Luas mich am Bahnhof angesehen hatte, als wollte sie sagen: Ja, meine Urenkelin, ich verstehe. Du bist noch nicht bereit, deinen Tod zu akzeptieren, also müssen wir so tun, als lebtest du noch.
    »Ist es ein schöner Traum?«, fragte sie.
    »Nein, ein unheimlicher, Nana«, antwortete ich. »In dem Traum bin ich tot, und du … du bist hier, aber du bist auch tot.«
    »Aber ist das nicht ein schöner Traum, mein Schatz?«, fragte sie. »Zu wissen, der Tod ist nicht das Ende von allem?«
    »Ja, das ist schön«, stimmte ich zu. »Ich versuche, mich daran zu erinnern, wenn ich aufwache, und an dich versuche ich, mich auch
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