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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah
Autoren: James Kimmel
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es muss so viel geben, wofür sie leben will. Aber sie sitzt einfach nur da, sieht nur an sich hinab und jammert innerlich – wegen des zu spät gerinnenden Blutes, wegen der Teile ihres Körpers, die einmal zu einem Ganzen gehört haben. Und da – sieh nur, wie ihr Hirn flackert, zuerst die Denkfähigkeit verliert, dann das Bewusstsein. Horch. Das Rauschen des Nichts erfüllt ihre Ohren.
    Luas zog seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Ich weinte, und er umarmte mich wie eine Enkelin, die ich hätte sein können. Ich weinte, weil ich mich an eine Vergangenheit erinnerte, die es vor dem Bahnhof von Schemaja und Luas gegeben hatte, vor den Babymilch- und Blutflecken. Ich erinnerte mich an meine Augen, irischgrün wie die meines Vaters, an mein Haar, lang, dicht und italienischschwarz wie das meiner Mutter. Ich erinnerte mich an den leeren rechten Ärmel meiner Kleider, zurückgesteckt, hochgekrempelt oder zugenäht. Ich erinnerte mich, dass sich die Leute fragten – das sah ich ihren Gesichtern an –, womit ein achtjähriges Mädchen all die leeren Ärmel verdient hatte. Ich erinnerte mich, dass ich ihnen hatte sagen, sie daran hatte erinnern wollen, dass Gott die Kinder für die Sünden ihrer Eltern bestraft.
    Ja, einen kurzen, unerträglichen Moment lang erinnerte ich mich bei meiner Ankunft am Bahnhof von Schemaja an viele Dinge. Ich erinnerte mich an in der Sonne sterbende Flusskrebse und an die grausame Ungerechtigkeit. Ich erinnerte mich an den Gestank verrottender Pilze und an die Unmöglichkeit zu vergeben. Ich erinnerte mich an die Transportkette des Miststreuers meines Großvaters, mit dem mein rechter Unterarm ab dem Ellbogen abgerissen und mitsamt dem Dung aufs Feld geschleudert wurde. Ich erinnerte mich an das engelhafte Gesicht meiner Tochter Sarah, zehn Monate alt und jung und frisch, mein heißgeliebter Schatz. Ich erinnerte mich an die Babymilch, die aus ihrem Fläschchen auf den leeren rechten Ärmel meiner Kostümjacke getropft war, und an die leichten Gewissensbisse, weil ich sie an diesem Morgen in der Tagesstätte hatte abgeben müssen, und die heftigen Gewissensbisse, weil ich erleichtert gewesen war. Ich erinnerte mich an Staub auf Gesetzesbüchern und den bitteren Geschmack von Kaffee. Ich erinnerte mich, meinem Mann gesagt zu haben, dass ich ihn liebte, und zu wissen, dass es stimmte. Ich erinnerte mich, meine Tochter am Ende des Tages abgeholt zu haben, und an unser freudiges Schreien, als wir einander erblickt hatten. Ich erinnerte mich, auf dem Heimweg Heißen Tee und Bienenhonig für sie gesungen und mich gefragt zu haben, was mein Mann zum Abendessen gemacht haben würde, weil er dafür freitags immer zuständig war. Am intensivsten erinnerte ich mich an das Gefühl, wie angenehm mein Leben für mich geworden war … und dass ich alles tun … alles geben … vor nichts haltmachen würde  …, damit es andauerte.
    Und dann verblassten meine Erinnerungen, als hätte man einen Stecker gezogen. Es gab nur noch in Blut verwandelte Babymilch. Es war überall, auf meinem Gesicht, Hals und Bauch, lief an meinem Ellbogen und meinem Handgelenk hinab, am Stumpf meines rechten Arms, färbte meine Beine und Füße und Zehen rot, schwemmte mein Leben aus meinem Körper und ergoss sich über Luas, malte uns in einer gemeinsamen Umarmung, sickerte durch seine Jacke und sein Hemd, breitete sich über sein Gesicht aus, bildete eine Pfütze auf dem Boden mit hässlichen roten Klumpen an den Rändern.
    So traf ich am Bahnhof von Schemaja ein, als ich starb.
    Und irgendwo im Universum seufzte Gott.

2
    Luas führte mich vom Bahnhof zu einem nahe gelegenen Haus. Wir folgten einem Feldweg durch einen Wald, über eine Weide, durch einen Garten und über einen Rasenstreifen. Die Stadt, die ich mir jenseits der Bahnhofsmauern vorgestellt hatte, gab es nicht. Wir waren auf dem Land.
    Der mondlose Himmel schillerte wie dunkelviolettes Bleiglas. Luas sprach kein Wort, stützte mich nur, wenn ich wankte. Ich war immer noch fassungslos. Alle paar hundert Meter wechselte das Wetter zwischen den Extremen von heiß und kalt und nass und trocken, als wäre auch der Himmel fassungslos. Ich spürte keine körperlichen Schmerzen. In einer dunklen Ecke meines Gedächtnisses hämmerte mein Oberkörper und kreischten meine Nerven – kaum noch greifbare Eindrücke, mehr Erinnerungen als Gefühle. Meine Haut, mit getrocknetem Blut überzogen, fühlte sich an wie eine erstarrte Hülle.
    Vor dem Haus, in das
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