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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah
Autoren: Martha Grimes
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einzige Situation ein, in die ein Mensch geraten könnte und die mit der der Katze vergleichbar war. Wieder dachte sie an ein Zimmer, stellte sich vor, schlafend im Dunkeln zu liegen. Sie blinzelte über das Wasser, wo die Lampions auf und ab schaukelten. Dort mußte es windiger sein.
    Das Zimmer durfte nicht einer Gefängniszelle ähneln. Es war wichtig, daß es ein schönes Zimmer war, eines mit sehr hoher Decke und Wänden in einer hellen, hübschen Farbe. Und an der Stirnseite befanden sich zwei sehr hohe Fenster, lang und schmal, fast so groß wie Glastüren. Vorhänge aus einem leichten, chiffonähnlichen Stoff bewegten sich in der Brise hin und her. Sie waren blaßgelb. Jeden Morgen (außer am letzten, an dem sie, so beschloß sie, entsetzt aus dem Zimmer stürzen würde) - jeden Morgen würde sie langsam erwachen und sehen, wie diese weichen, zitronenfarbenen Vorhänge sich blähten im Wind. Woher kam dieser Wind? Vom Wasser her. Vom Meer.
    Denn dieses Zimmer mußte irgendwo in einem warmen Land sein - Griechenland vielleicht -, wo die nach Osten gehenden Fenster mit ihren zarten, wehenden Vorhängen zwei Rechtecke blauen Himmels umrahmen würden. Maud rieb sich die Ellbogen und suchte nach dem richtigen Blauton. Sie dachte an ihr einziges wertvolles Schmuckstück, einen Ring, der ihrer Großmutter gehört hatte, einen Opal. Die zitronengelben Vorhänge (es könnte Zypern sein, wo Zitronenbäume wuchsen) würden im Wind wehen, der vom grünen Meer her blies. Die Wände wären rosa, und an der Decke befänden sich vielleicht Stuckgirlanden; das Bett hätte ein filigranes Eisengestell, und es gäbe keine Möbel außer einem Schrank, in dem ihre wenigen Kleider hängen würden, ausschließlich lange Baumwollkleider mit Trägern, ärmellos. Sie würde schulterfrei und barfuß gehen.
    Maud schreckte zusammen, als die Musik über dem Wasser sich veränderte, und merkte, daß ihr das Problem der Katze nun sehr fern war. Sie träumte nur von sich, wie sie in hellen, langen Baumwollkleidern über den kalten Steinfußboden schritt.
    Dies war der Schauplatz, der sich jeden Morgen ihrem Auge darbieten würde. Sie würde die blaßrosa Stuckwände sehen (es könnte ein italienisches Landhaus sein) und die freskenverzierte Decke, die pastellfarbenen Vorhänge und den opalenen Himmel.
    Und dann eines Morgens würde sie langsam im Dämmerlicht erwachen. Zuerst käme es ihr vor wie einer jener traumähnlichen Zustände, eine innere Dunkelheit, die der Verstand als etwas Vorübergehendes erkennt, das bald wieder von hellem Licht abgelöst wird.
    Nur geschähe es in diesem Fall nicht. Denn eines der Fenster würde fehlen. Dies war der entscheidende Punkt, dachte sich Maud stirnrunzelnd. Es war nicht, als erwache man allmählich zu dem schrecklichen Bewußtsein, auf einem Auge blind zu sein, woraufhin man aufspringen und den Arzt anrufen würde, sondern das Fenster fehlte. An seiner Stelle war jetzt nur die Wand. Die Wand hatte das Fenster überwachsen. Auf der einen Seite des Raumes war alles dunkel, die Vorhänge waren fort, die rosa Farbe verblichen, die girlandentragenden Figuren von der Decke verschwunden.
    Es war alles fort; das Bett stand im Dunkeln; den Schrank konnte sie nicht erkennen.
    Und sie konnte nicht sagen: »Ich bin auf einem Auge blind.« Sie konnte nicht in ihrem tödlichen Entsetzen auf die Straße laufen und brüllen, daß ihr Zimmer verschwand und daß die Wand das Fenster überwachsen hatte. Niemand würde ihr glauben. Alle würden annehmen, sie sei bloß wieder so eine griechische Verrückte, wahnsinnig geworden wie die, die ihre Kinder ermordet hatte. Sie wäre völlig isoliert. Sie wäre allein und ohne eine Erklärung. Und das war das Gemeinsame an ihrem Problem und dem der Katze.
    Jetzt fühlte sie sich besser, ein bißchen zumindest. Sie empfand es als kleinen Triumph, denn nun konnte sie Sam erklären, wieviel schlimmer es für die Katze war, nicht Bescheid zu wissen.
    Wieder stellte sie sich diesen Raum vor, der über der Ägäis schwebte. Meer aus Jade, Himmel aus Opal, die durchsichtigen Vorhänge in milchigem Gelb wie zerlaufendes Perlmutt, ein Raum aus reinem Licht, ohne die Bürde der Möbel, der Vergangenheit, der Zukunft...
    Als das fehlende Fenster vor ihrem geistigen Auge verschwand, spürte Maud, wie sich ihr die Kehle zusammenzog.
    Sie war erleichtert, als sie kurz darauf Sams Wagen hörte. Maud blinzelte in die Scheinwerfer, die erloschen, und hörte die Tür zuschlagen.
    »’n
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