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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah
Autoren: Martha Grimes
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eigentliche Dimension nahm. Und er versuchte nie, sie aufzumuntern, obwohl er sie häufig in - gelinde gesagt - schlechter Stimmung antraf. Die meisten Leute hätten sich über sein Schweigen vermutlich gewundert. Waren Freunde nicht genau dazu da? Um einen aufzuheitern?
    Nein, Freunde kannten den Unterschied zwischen jenem trostlosen, jämmerlichen, lähmenden Gefühl, das man »Blues« nannte (eine Musik, die die Gesellschaft jenseits des Wassers aus irgendeinem Grunde nie spielte), und dem, was Maud hatte. Und was Maud empfand, war nicht genau zu benennen und wahrscheinlich nicht normal, sofern man es nicht als »Depression« bezeichnen wollte. Das war vermutlich der einzige Begriff, der einem dazu einfallen konnte, aber das half ihr auch nicht viel.
    Nach der Tanzpause begann die Combo mit dem Stück »Brazil«. Sie war froh, daß sie nie jemanden in Brasilien zurückgelassen hatte, sonst hätte es sie wohl zum Heulen gebracht.
    Ein weiteres Boot - oder war es dasselbe schwarze Chris-Craft? - flitzte am gegenüberliegenden Ufer entlang. »Ist das nicht wieder dasselbe Boot? Wo fahren die überhaupt hin? Da ist doch nichts, am anderen Ende des Sees.« Soweit sie sehen konnte, war da weder etwas am einen noch am anderen Ende, abgesehen vom Red Barn, der »roten Scheune«, die nicht viel mehr war, als ihr Name schon verriet. Im Red Barn wurden Bier und Räucherwürstchen verkauft, außerdem hatten sie eine Musikbox und einen von diesen überdimensionalen Fernsehschirmen, die einem fast angst machen.
    Ihre Depression zeigte sich etwa in der Tatsache, daß sie beinahe wegen des Katzenauges und des verlorenen Zimmers mit der hohen Decke geheult hätte. Es war weiß Gott nicht normal, so viel zu flennen, wie sie es tat - vor allem über die Sachen zu heulen, über die sie heulte. Oh, sie nahm an, daß viele Leute bei Musik weinten, bei Liedern, die sie an ihre toten Liebsten in Brasilien und so weiter erinnerten. Aber sie wurde ja gleich stocksteif, erstarrte vor der Milchshake-Maschine im Rainbow, wenn jemand »Blue Bayou« spielte oder wenn Elvis »I'm so lonesome I could cry« sang. Es war ihr dann, als stünde ihre Hand, die den Milchshake-Behälter aus Aluminium hielt, unter Strom und als könne sie ihn nicht mehr loslassen.
    Man heult doch nicht einfach, wenn man auf eine Katze hinunterschaut, weil sie gerade mit dem Kopf auf den Pfoten schläft; oder wegen eines schwarzen Autos, weil seine Hinterräder aufgebockt sind; oder wegen eines Felsens am Straßenrand; oder einer Schar Zaunkönige, die auf hohen Halmen schaukeln und dann plötzlich davonfliegen. Zumindest nahm sie das an. Und es war fast selbstverständlich, daß sie all die Bilder von Chad, als er vier und sieben und sogar sechzehn war, weggeräumt hatte. Manchmal steckte sie die Bilder, die sie vor Chads Abreise geknipst hatten, direkt nach dem Entwickeln und ohne sie vorher anzuschauen ins Album, so als könnten sie ihr die Augen versengen.
    Ihrer Ansicht nach hatte sie die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: verrückt oder depressiv.
    Die Frage schien sich einige Tage zuvor geklärt zu haben, als ihr eine Ausgabe der Time (oder war es Newsweek ?) mit einer Titelgeschichte über Depressionen in die Finger gekommen war.
    Depression war offenbar geradezu eine Epidemie, die sich zunehmend auch unter jungen Leuten ausbreitete (was ihr persönlich natürlich nicht weiterhalf). Es gab verschiedene Arten der Depression. Sie las interessiert über die vielen Symptome und war nicht überrascht, daß häufiges Weinen eines davon war. Ausgebrannt sein. Auch das traf auf sie zu. Obwohl man offenbar nicht eine Art Punkteliste aufstellen konnte, mußte man sich doch beim Vorhandensein von vielleicht drei oder vier Symptomen als depressiv bezeichnen; bei fünf oder sechs als schwer depressiv; bei über sechs war man fast ein klinischer Fall. Und außerdem war wichtig, welche Symptome man hatte. Selbstmordgedanken waren natürlich schwerwiegend. Und wenn man häufig an Selbstmord dachte, war es geradezu heikel; kam es zum Selbstmordversuch - und das schien die Reporter zu überraschen -, war die Lage wirklich ernst. Es gab zwölf Symptome. Maud ging sie durch und sah, daß sie alle bis auf eines hatte.
    Das war nicht gerade etwas, worüber man seiner Mutter schreiben mochte. Aber ihre Mutter war tot. Es war auch nichts, worüber man seinem Sohn schreiben mochte.
    »Ich weiß nicht«, sagte Sam.
    »Was? Was weißt du nicht?« Seine Stimme hatte sie aus ihren Gedanken
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