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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah
Autoren: Martha Grimes
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hereinkommen und hinausgehen und erinnerte sich dabei an so etwas wie: Tore aus Elfenbein, Tore aus Horn. Sie war drei Jahre aufs College gegangen, hauptsächlich in Literaturseminare, und las leidenschaftlich gern. Dennoch konnte sie sich nicht entsinnen, wo diese Tore standen, nicht einmal, was sie bedeuteten, nur daß sie einen wichtigen Durchgang zu einem irgendwie... endgültigen Ort darstellten.
    Als sie an jenem Abend um sieben Uhr ihre Schürze an den Haken hängte und ihren Mantel herunternahm, dachte sie daran, daß Joey am Tag nach dem Labor Day wieder zur Schule gehen würde.
    Und dann dachte sie nicht mehr an Joey und die Schule, denn das erinnerte sie nur an Chad, und der war fort.
    Deswegen hatte sie nicht zur Arbeit gehen wollen. Eigentlich hatte sie nach hier unten kommen wollen, ans Ende des Piers, wo sie jetzt war.
    Maud saß am Ende des Piers und beobachtete die Party auf der anderen Seeseite, die schon den ganzen Sommer anzudauern schien. Maud fragte sich angesichts des Trubels, was man sich auch angesichts eines Baumes im Wald fragen könnte: Wäre es damit vorbei, wenn sie nicht mehr da wäre, um ihn wahrzunehmen? Kurz vor dem Vierten Juli, dem Unabhängigkeitstag, war es gewesen, als sie die Lichter bemerkte, herunterkam und über den weiten See hinüberstarrte zu den Lampions, die wie eine Weihnachtsbeleuchtung aussahen. Das erstemal hatte sie bloß eine Weile dagestanden, mit zusammengekniffenen Augen übers Wasser geblinzelt und der leisen Musik gelauscht.
    Am nächsten Abend kam sie mit ihrem Martiniglas herab, setzte sich an den Rand des Docks und ließ die nackten Beine baumeln.
    Am Abend darauf war sie mit einem Holz-Aluminium-Stuhl und einer gekühlten Flasche Popov-Wodka gekommen, und in den folgenden Nächten und Wochen richtete sie sich auf dem Ende des Piers allmählich häuslich ein.
    Nach dem Vierten hatte sie ein Tischchen und eine Plastikwanne mit Eiswürfeln heruntergebracht, in die sie ihre Popovflasche mit der fertigen Martinimischung steckte. Und dann, als Chad vom College nach Hause kam, ließ sie sich aus dem Schlafzimmer ihres Häuschens am Waldpfad einen alten Schaukelstuhl von ihm hinunterschleppen. Es sei kein Pier, sondern ein Dock, sagte er zu ihr, und er könne nicht begreifen, weshalb sie abends stundenlang da draußen hocke.
    Chad hatte auf dem Aluminiumstuhl gesessen, Bier getrunken, sich am Seeufer umgeschaut, das Sumpfgras inspiziert - das Pier befand sich in einer kleinen Bucht - und auch den Baum mit der dicken, freiliegenden Wurzel, die aussah, wie ein gebeugtes Knie, ein Baum, der inmitten des verfilzten Gestrüpps aus Gras und Unkraut betete.
    Er seufzte, schon mit zwanzig der Welt überdrüssig, und fragte sie: »Warum arbeitest du immer noch bei Shirl?«
    »Wahrscheinlich, weil’s dunkel und ruhig ist.«
    Er zog ein neues Bier aus dem Karton; man hörte ein leises saugendes Zischen, als er es öffnete. »Ich hoffe doch, es gibt noch was andres im Leben - nicht nur Dunkelheit und Ruhe.«
    »Wenn du Glück hast«, hatte sie geantwortet.
    In der Dunkelheit drehte er den Kopf. »Ach, komm schon, Mom.«
    Das war sowieso nicht seine eigentliche Frage gewesen. Die lautete nicht, »warum arbeitest du bei Shirl?«, sondern »warum wohnen wir an einem Ort, wo nichts los ist, warum hast du das Studium nicht beendet und einen Abschluß in Anglistik gemacht, warum hast du keinen tollen Job gekriegt, warum bist du nicht - zum Beispiel - Managerin geworden oder hast wenigstens einen geheiratet, jemand, mit dem wir statt mit ihm hätten leben können, warum hast du kein eigenes Restaurant, warum ist in deinem Glas ein Eiswürfel und nicht der Mond?« Maud sagte: »Shirl mag dich.«
    Er zündete sich eine Zigarette an, die Flamme des Einwegfeuerzeugs leuchtete sein Profil an und erlosch. »Ist das so verwunderlich? Ich bin schließlich ein höflicher Mensch.«
    »Darum geht’s nicht. Sie mag niemanden. Aber du bist eine Ausnahme. Sie stellt dich Joey immer als gutes Vorbild hin, und sogar er mag dich.« Maud schüttelte die Eiskristalle von der Popov-Flasche. »Über was redest du eigentlich mit ihr? Sie würde es nie zulassen, daß Charlene oder ich dich bedienen.« Das freute Maud ungemein.
    »Über ihre Füße.«
    Maud drückte die Flasche wieder in die Plastikwanne und wandte sich ihm zu. »Über ihre Füße?«
    »Sie hat Hühneraugen und entzündete Ballen. Deswegen hat sie immer Pantoffeln an.«
    Die Melodie von »I Concentrate on You« kam über den See
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