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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah
Autoren: Martha Grimes
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sehen? Das sieht einfach merkwürdig aus, finde ich.«
    Sie sagte ihm, sie brauche die Lampe zum Lesen.
    Der einzige Mensch in ihrem Bekanntenkreis, der über Bücher Bescheid wußte und verstand, wie sie einen im Boden und in der Vergangenheit verwurzelten, so, wie es dem Fernsehen irgendwie nie gelang, war Miss Ruth Porte. Miss Ruth kam jeden Abend zu Shirl zum Essen, außer donnerstags und an den Wochenenden. Immer saß sie in der hintersten Nische, deren Trennwand ausgerechnet auf der Seite war, von der aus sie den großen, ununterbrochen ratternden und wimmernden Fernseher nicht sehen mußte. Er mache sie wahnsinnig, behauptete Miss Ruth Porte. Warum brachten die Leute sich denn kein Buch mit - Miss Ruth mochte Jane Austen -, wenn sie Unterhaltung brauchten?
    Miss Ruth strich dann über ihre kalbsledergebundene, sorgfältig in Plastikfolie eingeschlagene Jane Austen und sagte: »Es ist, als wär’s die eigene Familie, Menschen vom eigenen Fleisch und Blut. Diese modernen Schriftsteller verstehen einfach nicht, daß die Leser das Gefühl haben wollen, in einer Familie zu sein, die sie hautnah umgibt. Heutzutage schreiben die Schriftsteller« - und es wurde nie klar, wer die eigentlich waren - »nur noch über Nervenzusammenbrüche und Scheidungen, alles geht bei ihnen in die Brüche, und alle gehen zum Teufel.« Dann hielt sie inne, klappte ein paarmal die Speisekarte auf und zu, unzufrieden, weil sie ihren Gedankengang - wie der nun auch genau aussah - nicht richtig ausgedrückt hatte. »Es muß keine gute Familie sein - die meisten Familien sind keine guten, weiß Gott, und Miss Jane Austen weiß es offensichtlich auch. Schauen wir mal, was ist denn heute das Tagesgericht?«
    Maud stand dann geduldig mit ihrem kleinen Block und gezücktem Bleistift bereit, um die Bestellung aufzunehmen. Häufig sprach sie über die Bücher, die sie gerade las, nicht, um Miss Ruth (die die letzte Porte und angeblich reich war) Honig um den Mund zu schmieren, sondern weil es sonst kaum jemanden gab, mit dem man sich über Bücher unterhalten konnte. Neben Wallace Stevens las Maud gerade F. Scott Fitzgerald, und Miss Ruth war ganz begeistert und sagte, er sei viel, viel besser als Ernest Hemingway, auch wenn die Lesezeichen -Leute das anders sahen. Das Lesezeichen war ein Lesezirkel, der jeden Donnerstag zusammen traf, weswegen sie an diesem Abend nicht ins Rainbow Café kam.
    Miss Ruth erkundigte sich stets nach Mauds Sohn, Chad, den sie »großartig, einfach großartig« fand, und das war kein hohles Kompliment. Was sie sagte, entsprach der Meinung, die offenbar auch alle anderen von Chad hatten, und Maud wünschte sich, sie würden aufhören, von ihm zu reden wie von einer Gottheit auf Besuch. Alle schienen herumzulungern und darauf zu warten, daß er sie salbte oder so was. Er konnte einfach mit den Leuten reden, so einfach war das. Gott allein wußte, woher er diese Gabe hatte, von ihr bestimmt nicht. Sie betrachtete sich als das, was man gemeinhin als »krankhaft schüchtern« bezeichnet, und das war einer der Gründe, warum sie gerne bei Shirl arbeitete. Die Kunden waren an Shirls bärbeißige Art gewöhnt, die auch auf Charlene und Wash, den Koch, abgefärbt hatte und sogar auf die beiden Aushilfskellnerinnen, die bei großem Andrang oder dem, was Shirl darunter verstand, einsprangen.
    Maud wurde im Gegensatz zu allen anderen als wahres Goldstück betrachtet. Shirls Kunden fragten sie dauernd, warum sie denn bloß hier arbeite, und sie pflegte mit einem kleinen Zwinkern zu antworten: »Hab wohl einfach Glück gehabt.« Dann lachten sie. Wenn sie an der Theke in Reih und Glied dasaßen - Dodge und Sonny und Bürgermeister Sims und manchmal sogar Wade Hyden vom Postamt und Ubub und Ulub - und unisono auf etwas reagierten, die Köpfe nach rechts oder links drehten, erinnerten sie Maud an eine klapprige Chorus Line, und dann mußte auch sie lachen.
    Sie wußte, es verwirrte die Kunden, daß sie so gebildet war und trotzdem als Kellnerin arbeitete. Es war schwer, ihnen verständlich zu machen, daß manche Leute - ob mit oder ohne Bildung - einfach keine derartigen Ambitionen hatten, keine Karriere wollten und auch nicht das große Geld und daß sie eben eine von denen war. Mit ihren drei Jahren College und ihrem schüchternen Lächeln nahm sie daher an, daß sie sie für eine Frau mit einer traurigen Vergangenheit hielten, vergleichbar etwa einer Herzogin im Exil.
    Zwei Rennboote zischten vorbei, und ihre Kielwasser kreuzten
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