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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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Flugzeug wieder in den Himmel zurückkehren.
    »Ich wünschte, mein Daddy –« Sie wollte sagen, ›wäre hier‹, aber ihre Mutter unterbrach sie, indem sie ihr fest die Hand auf den Oberarm legte.
    »Ich meine es ernst«, flüsterte Mommy mit blitzenden Augen und rauer Stimme. Tränen sammelten sich in ihren Wimpern, kullerten ihre Wangen hinab. Kylie beobachtete, wie sie heruntertropften, und hätte sich gerne auf den Sitz gekniet und sie weggeküsst. Aber der Gurt war eng über ihrem Schoß festgeschnallt und sie kam nicht hoch. »Ich kann es nicht mehr ertragen«, fuhr ihre Mutter fort und wischte sich die Tränen selbst ab. »Ich bin müde. Ich will kein Wort mehr über Engel, Bruchlandungen oder deinen Vater hören. Hast du mich verstanden?«
    Kylie sah, wie sich die Kehle von Mommy bewegte, als hätte sich dort ein Stein verklemmt, den sie hinunterzuschlucken versuchte. Je öfter sie sich die Tränen abwischte, desto schneller flossen sie. Kylie verrenkte sich den Hals, um nach dem kleinen Engel im vorderen Teil der Kabine Ausschau zu halten, konnte ihn aber nirgends entdecken.
    »Ich muss auf die Toilette«, sagte sie.
    Ihre Mutter atmete aus. Geduldig öffnete sie zuerst ihren eigenen Sicherheitsgurt und danach Kylies.
    »Ich kann alleine gehen,« sagte Kylie ihr.
    »Ich bringe dich hin.«
    »Ich bin schon groß.« Kylie bestand darauf, alleine zu gehen. Vielleicht würde sie das Flugzeug mitsamt allen Leuten retten, wenn sie tat, was der kleine Engel von ihr verlangte: ihr zu helfen, ihren Vater zu küssen.
    »Na gut«, sagte Mommy.

    *

    May sah, wie Kylie zuerst nach hinten und dann nach vorne schaute. Die Länge der Schlange abschätzend, die vor der hinteren Toilette wartete, ging sie – kluges Mädchen! – durch den Vorhang, zu einer der Toiletten in der Business Class. May neigte den Kopf, um sie im Auge zu behalten. Sie beobachtete sie, bis Kylie die Stewardess bat, ihr beim Öffnen der Tür behilflich zu sein; dann entspannte sie sich. Sie war dankbar, dass sie ein paar Minuten Zeit hatte, um ihre Fassung wiederzugewinnen.
    Sie spricht mit Engeln, dachte May. Sie ist erst sechs und geistig verwirrt, besitzt keine hellseherischen Fähigkeiten, sondern leidet unter Schizophrenie, sie redet mit Toten, glaubt, dass unser Flugzeug abstürzen wird. Die Berichte und Dokumente der Studie wogen schwer auf ihrem Schoß, und wenn es möglich gewesen wäre, die Fenster des Flugzeugs zu öffnen, hätte sie die Papiere hinausgeworfen. Sollten sie doch wie Flugblätter an der Nordküste von Boston zur Erde flattern! Es würde am besten sein, keine Zeit damit zu vergeuden, die Unterlagen in die Arztpraxis zu bringen. May beschloss, Kylie entgegen ihrem ursprünglichen Plan direkt nach Hause, nach Black Hall zu fahren. Sie hörte sich plötzlich leise schluchzen und hatte das Gefühl, ihre Brust müsse zerspringen.
    Durch den Tränenschleier versuchte May, aus dem Fenster zu blicken. Unter den dünnen Nebelschwaden rückte die Erde näher. Sie hatten mit dem Landeanflug begonnen. Eine Stewardess eilte vorüber. Der Pilot dankte über den Lautsprecher allen Passagieren, dass sie sich für seine Fluggesellschaft entschieden hatten, und erzählte, in Boston sei das Wetter kühl und regnerisch.
    Sie erinnerte sich, wie sie einmal mit Kylie aus Kanada zurückgekommen war und ihre Großmutter sie damit überrascht hatte, dass sie nach Boston gefahren war, um sie am Flughafen abzuholen und zu Kylies Arzt zu begleiten. May war schwer bepackt mit zwei Reisetaschen und einem zusammenklappbaren Kinderwagen. Sie hatte Mühe, mit Kylie zum Ausgang zu gelangen, wo sie dann ihre Großmutter entdeckte. Emily, der man ebenfalls hellseherische Fähigkeiten nachsagte, hatte immer gespürt, wenn ihre Enkelin sie dringend brauchte. Sie hatte die Leute aus dem Weg geschoben und May geholfen, das Gepäck zu tragen. May schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass ihre Großmutter auch heute auf sie wartete. Doch obwohl sie sich die größte Mühe gab, gelang es ihr nicht, das Bild heraufzubeschwören. Sie war nicht wie Kylie, sah keine Engel, wo es keine gab.
    Sie reckte den Hals und sah, dass dichter Nebel den Hafen von Boston und die Küstenlinie verhüllte, wie es für Neuengland typisch war. Als das Flugzeug im Landeanflug seine Kreise zog, wurden sie vom Nebel verschluckt und May konnte nichts mehr unter sich erkennen. Ein plötzlicher Ruck ließ die Maschine erzittern. Das Licht erlosch, flackerte wieder auf. Die
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