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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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Wanderung im Lovecraft Wildlife Park auf eine Leiche gestoßen, die am Ast eines Baumes hing. Sie bestand nur noch aus Lumpen und Knochen, und der blanke Schädel hatte sie angegrinst wie eine Hexe, die langsam zu Staub zerfällt. Die Polizei identifizierte den Toten später als einen Obdachlosen namens Richard Perry, der Selbstmord begangen hatte.
    Danach hatte Kylie plötzlich angefangen, Selbstgespräche zu führen. Sie schrie im Schlaf, weinte den ganzen Tag im Kindergarten, sprach in unbekannten Sprachen mit Menschen, die May nicht sehen konnte.
    Der Psychologe, zu dem May sie schließlich brachte, hatte sie auf das zeitliche Zusammentreffen von traumatischen Ereignissen aufmerksam gemacht: Kylies Visionen hatten unmittelbar nach dem Tod ihrer Urgroßmutter begonnen. Emily Dunne war eine starke Persönlichkeit und für die Familie wie ein Fels in der Brandung gewesen. Kylie hatte zu diesem Zeitpunkt auch begriffen, dass sie im Grunde vaterlos war. Eine Reaktion auf Verlustängste, hatten die Ärzte befunden, in ihrem kleinen Universum fühle sie sich von den meisten Erwachsenen verlassen. Der Anblick der Leiche sei der Auslöser, gewissermaßen der Katalysator dafür gewesen, dass sie Geister sah. Sie sehne sich nach einer Familie und projiziere diesen Wunsch auf ihre Visionen.
    May konnte das gut verstehen. Sie selbst war in einer liebevollen Großfamilie aufgewachsen und sehnte sich nach einer intakten Familie. Dazu kam, dass sie durch ihre Großmutter und Großtante vorbelastet war, was die Magie betraf, denn sie arbeitete in einem Beruf, der den Zauber für sich gepachtet hatte.
    Aber was, wenn Kylie nicht hellseherisch begabt, sondern schizophren war?
    »Sie wird weggehen, bevor sie ihrem Vater einen Kuss geben kann. Sie wird weggehen, wenn ich nicht aufpasse –«
    »Kylie«, flüsterte May mit brechender Stimme, »lass sie gehen.« Sie sagte sich, wenn sie nicht so erschöpft, frustriert, verängstigt und einsam wäre, hätte sie Kylie unmissverständlich klar gemacht, dass nirgendwo ein Mädchen zu sehen war, das seinen Vater küssen wollte, dass kein kleiner Engel über den Sitzen der Business Class schwebte.
    *

    Martin Cartier hatte die Beine im Gang ausgestreckt und jedes Mal, wenn eine der Stewardessen vorbeiging, musste sie sich auf die Rückenlehne seines Sitzes stützen und über seine Füße steigen. Zwei Stunden Flugzeit und er benahm sich wie ein Flegel, versperrte ihnen den Weg, aber er konnte nicht anders. Er hatte versucht, zusammengekauert, kerzengerade oder seitwärts zu sitzen, aber wie er sich auch drehen und wenden mochte, das Flugzeug war zu klein.
    Nicht nur wegen seiner Statur, die mächtig war, sondern auch wegen seiner überbordenden Energie. Seine Mutter hatte immer gesagt, er hätte einen Blizzard im Leib, und er war geneigt, ihr Recht zu geben. Er fühlte sich, als hätte er einen Schneesturm verschluckt, mit einer Gewalt, die ausreichte, um ganze Städte dem Erdboden gleichzumachen und alles unter sich zu begraben, was seinen Weg kreuzte. Wenn er dieser Kraft auf dem Eis freien Lauf ließ, rieb er damit die gesamte gegnerische Mannschaft auf. Martins Energie strömte aus seinen Ellenbogen und Hüften, so dass seine Kontrahenten auf dem Eis mit voller Wucht gegen die Bande krachten, Blut floss und so mancher im Krankenhaus landete.
    Im Augenblick bewirkte diese überbordende Energie, dass er unruhig auf seinem Sitz hin und her rutschte. Er fühlte ein Prickeln auf seiner Kopfhaut und hielt abermals nach der Ursache Ausschau. Die Stewardess hatte den Vorhang zugezogen, aber als er durch den Spalt spähte, sah er das kleine Mädchen, das ihn anstarrte, und die hübsche Mutter, die sich zu der Kleinen hinüberbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.
    Er war Verteidiger bei den Boston Bruins, und sie nannten ihn den »Goldenen Vorschlaghammer«: Gold wegen seines Namens Cartier, und Vorschlaghammer wegen seiner Kämpfe, die er unweigerlich gewann. Zehn Mal hatte er sich für die All Star Games qualifiziert, an denen nur die besten und beliebtesten Eishockeyspieler teilnahmen, zwei Mal war er zum MVP, dem »wertvollsten« Spieler in der NHL, ernannt worden, und zwei Mal führte er die Liga als bester Torjäger an. Er war ein rauer Bursche, ein unerschütterlicher ›Blueliner‹, der zwei Jahre in Folge die begehrte Norris Trophy als bester Verteidiger in der Vorrunde gewonnen hatte.
    Er war kein Rohling, aber wenn er auf dem Eis angegriffen wurde, suchte sich sein inneres Feuer in
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