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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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sich vor, dass sein Vater ihm zusah und ihn mit Stolz beobachtete. Er ließ seinen besten Freund in einer Wolke aus Schnee hinter sich zurück. Er hob seinen Arm und holte aus, zielte auf das Netz und traf ins Tor.
    »Martin, was ist denn das?« Ray kam näher.
    »Was ist was?« Martin grinste. Er nahm Ray in den Schwitzkasten, dann in die Kopfzange. »Ich habe dich besiegt. Kannst du das nicht ertragen?«
    »Nein, ich meine das da –« Ray schob Martin beiseite und deutete auf das Eis.
    Rote Tropfen führten zu einer scharlachroten Lache. Das Blut lief an seinen Beinen hinab, über seine Schlittschuhe, auf das Eis. Hellrot sickerte es durch die dünne Schneeschicht und die Spuren der Schlittschuhe.
    »Ach, das ist nicht der Rede wert«, erwiderte Martin.
    » Merde! « Ray fluchte.
    Am Reißverschluss zerrend, öffnete er Martins Jacke. Martin versuchte, ihn abzuwehren, aber er zitterte am ganzen Körper. Ray warf seine Handschuhe zu Boden und knöpfte Martins Hemd auf.
    Die Wunden waren tief und bei der wilden Jagd auf dem Eis waren die Nähte wieder aufgegangen. Blut floss aus den Schnitten, die kreuz und quer über der Brust verliefen. Der Mann hatte Martins Nacken mit der einen und das Messer mit der anderen Hand gepackt; sein Vater hatte daneben gestanden und zugesehen. »Zahle «, hatte der Mann immer wieder gesagt, »das ist die letzte Warnung. Zahle, oder ich gehe tiefer.«
    »Was zum Teufel …«, Ray blickte Martin in die Augen. Die Luft war eisig und das Blut gefror ihnen in den Adern, während sie reglos dastanden. Ray zog seine Jacke aus und drückte sie auf die Wunden. Martin konnte und würde nicht reden. Er würde niemandem, nicht einmal seiner Mutter oder seinem besten Freund offenbaren, was ihm angetan worden war.
    Und er hatte niemals – mit keiner Menschenseele – darüber gesprochen, bis er May begegnete.
    May, seiner einzigen Liebe. Ihr hatte er die ganze Geschichte erzählt.
    *

    Er konnte es jetzt wieder sehen, wie es gewesen war und was sich zugetragen hatte an jenem eisigen, klaren Morgen auf dem Lac Vert. Er sah es, als hätte er die Szene direkt vor Augen: jedes Eiskristall, jede Kiefernnadel, den Blick des Freundes, im Fieber des Wettstreits lodernd. Alles war so deutlich und klar wie der Tag.
    Bis er die Augen öffnete. Er lag im Bett, verschwitzt und in die Laken verknäult.
    »Martin, du hast im Schlaf geschrien!«, flüsterte May neben ihm.
    »Ich habe geträumt« –, er stockte.
    »Erzähl es mir.« Er hörte die Besorgnis in ihrer Stimme und dahinter die innigste Liebe, die er je erfahren hatte. Sie waren sich zu einem seltsamen Zeitpunkt im Leben begegnet, als beide verwundbar waren, und sie hatte ihm einmal gesagt, sie hätten einander etwas zu geben, was besonders und einmalig sei. Doch er befürchtete, dass er die Kraft verloren hatte, ihr überhaupt noch etwas zu geben.
    »Ich habe vom See geträumt.«
    »Was ist geschehen?«
    »Ich konnte sehen.«
    May presste ihr Gesicht auf seine Brust. Die Narben schmerzen nicht mehr so wie früher, aber sie fühlten sich hart und gespannt wie Drahtseile an. Martin sah ihre Hand nicht, die nach oben glitt und sanft sein Gesicht berührte. Er konnte das Schlafzimmer, das Fenster und die Bilder vom Lac Vert an der Wand nicht sehen, und auch nicht die Frau, die neben ihm lag, die einzige große Liebe seines Lebens. Er war blind und würde außer in seinen Träumen nie wieder etwas sehen.

1
    D er Flug war ausgebucht. Während die Passagiere an Bord gingen, kam eine Durchsage der Stewardess, dass jeder Platz benötigt werde und sämtliche Gepäckstücke oben in den Fächern oder unter dem vorderen Sitzen verstaut werden müssten. May Taylor vergewisserte sich, dass ihr Handgepäck aus dem Weg war, und schärfte Kylie ein, auf ihrem Platz zu bleiben und den Mann nicht zu stören, der neben ihr am Gang saß und aussah, als sei er geschäftlich unterwegs.
    Der Start verlief glatt und das Flugzeug stieg durch eine dünne graue Wolkenschicht in das klare Blau des Himmels empor. Bis zu diesem Jahr war May nicht oft geflogen, weder war dafür genug Geld da gewesen noch hatte es einen zwingenden Anlass gegeben. Aber der Arzt in Boston hatte Kylie vor einiger Zeit für die Teilnahme an einer Studie der Twigg University in Toronto vorgeschlagen, wo eine Gruppe von Psychologen damit befasst war, das Phänomen hellseherischer Fähigkeiten im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen zu erforschen.
    May und Kylie lebten bei Mays Großtante in
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