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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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anschauen musste. Aber in diesem Tagebuch war ihre Geschichte aufgeschrieben. Wenn Kylies Visionen und Träume ausblieben, wusste May, dass jede Seite darin Etappen darstellten, die zu diesem Moment führten.
    Sie schlug es auf, las ein paar Worte und spürte, wie ihr Herz ihrem Mann und ihren beiden Töchtern entgegenflog, den Irrungen und Wirrungen der Liebe und den Geheimnissen des Lebens. Ihre Tochter hatte durch den Schleier zwischen den Welten gesehen, hatte Menschen gelauscht, die sich im Reich der Toten befanden, und ihnen vor Augen geführt, dass man sich nicht vor der Vergangenheit fürchten musste. May dachte mit Dankbarkeit an Richard Perry, und an Natalie Cartier mit Liebe.
    Nun hob May Martins Reisetasche vom Fußboden auf. Genau das war mit dem Treuegelöbnis gemeint: sich lieben und ehren, in Krankheit und Gesundheit, Reichtum und Armut, in guten und in schlechten Tagen. Die Kinder des Partners lieben und seine Eltern ehren, selbst wenn dieses Unterfangen unmöglich erscheint.
    Und das Gepäck tragen, das der andere mit in die Beziehung einbringt. Und so schlang May den Riemen über die Schulter, sperrte die Tür ihres Seehauses zu und trug die Reisetasche ihres Mannes zum Auto. Das Licht war im Dezember schwach und fahl, aber bei ihrem nächsten Besuch im Sommer würde das Licht angefüllt sein mit Gold, Blütenstaub und Hoffnung.
    Sie machten sich auf den Weg.

    *

    Martin saß im Besucherraum, May auf der einen und Kylie auf der anderen Seite. Er nahm das Klappern von Türen und schlurfende Schritte wahr, und den Geruch nach Essen, Qualm und Schweiß. Das Gefängnis erinnerte ihn an bestimmte Umkleidekabinen, in denen er gewesen war, ein höhlenartiges Labyrinth aus Beton, in dem Gewalt und Aggression einen Widerhall fanden.
    »Kylie, alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
    »Mir geht es prima.«
    »Ich frage mich, wo er bleibt«, sagte May.
    Martin nickte. Vielleicht hätten sie ihren Besuch ankündigen sollen. Oder gar nicht herkommen sollen. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, seine Nerven lagen blank. Wahrscheinlich war das der größte Fehler seines Lebens. In Lac Vert hatte er es für eine gute Idee gehalten, seinen Vater zu besuchen, aber im Moment kam sie ihm töricht und rührselig vor.
    Aber Martin hatte es Natalie versprochen. Nicht eine einzige Minute hatte er daran gezweifelt, dass sie beisammen gewesen waren, das Ganze als Traum abgetan. Er war seiner Tochter begegnet. Sie hatte ihm ermöglicht, wieder zu sehen, auf eine Weise, wie es Teddy Collins, der renommiertesten Augenspezialistin in Boston, nie gelingen würde. Natalie hatte ihm Dinge gezeigt, die tief in seinem Innern verborgen waren, das Geheimnis des Lebens, für das er blind gewesen war.
    Als sich nun die Innentür öffnete und sein Vater den Raum betrat, spürte Martin seine Gegenwart, auch wenn er ihn nicht sehen konnte.
    »Dad.« Martin stand hoch aufgerichtet da.
    »Martin«, sagte Serge.
    Sie waren nur noch wenige Schritte voneinander entfernt. Andere Häftlinge saßen in der Nähe, sprachen mit ihren Frauen, spielten mit ihren Kindern. Martin hörte ihre Stimmen, aber die Worte verklangen, traten in den Hintergrund. Der Atem seines Vaters war dagegen laut, wie Trommelschläge.
    »Ich freue mich, dich zu sehen.«
    »Mein Sohn«, sagte Serge und schloss Martin in seine Arme. Ein Wärter trat vor, um sie zu trennen, aber Serge ließ nicht los. Martin spürte den starken Rücken seines Vaters unter seinen Händen und erinnerte sich daran, wie er als Kind von ihm hochgehoben und getragen worden war.
    »Dad, May kennst du ja.«
    »Hallo, meine Liebe.«
    »Serge, ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«
    »Mommy liebt deine Postkarten«, erzählte Kylie ihm.
    »Das ist gut. Das freut mich sehr.«
    Sie plauderten eine Weile, um das Eis zu brechen, über das Weihnachtsfest am See, das Weihnachtsessen, das Leben im Gefängnis, den Verkehr in der Innenstadt von Estonia und Kylies Schule. Sein Vater wollte wissen, ob Kylie sich für Sport interessierte, und sie sagte ja, besonders für Eiskunstlaufen, Schwimmen und Angeln.
    »Angeln auf dem Lac Vert«, sagte Serge. »Ist die große alte Forelle noch da?«
    »Der Urgroßvater«, sagte Kylie.
    »Muss inzwischen der Urenkel des Urgroßvaters sein«, erwiderte Serge. »Meine Güte, ich erinnere mich, wie er sich unter dem flachen Stein versteckte, der alte Halunke, und gerade mal so weit die Nase herausstreckte, dass ich sehen konnte, wie er mich auslachte.«
    »Und bestimmt hat er
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