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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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Begräbnis ihres Vaters gesungen, und in der letzten Zeile ging es um Blinde, die wieder sehen konnten – nicht mit den Augen, sondern mit den Herzen. »Was für ein schöner Klang«, flüsterte May.
    Sie lauschten, bis die Glocken verklangen und nur noch das Klirren der Eiszapfen in den Bäumen die Stille durchbrach. Ein Windstoß fegte über den zugefrorenen See, fuhr den Kamin hinab. Thunder sprang auf und lief zum Ofenschirm, um nachzusehen, wedelte mit dem Schwanz. May zitterte in banger Erwartung dessen, was als Nächstes geschehen mochte.
    Was immer sie auch erwartet hatte, es kam nicht von außen: Martin zog sich aus seinem Sessel hoch. May und Kylie sahen ihn an, fragten sich, was er vorhatte.
    »Ist da auch ein Stern in der Schachtel?«, fragte er.
    »Ja.« Kylie griff in die Schachtel mit dem Christbaumschmuck, holte einen verbogenen, abgegriffenen Stern aus Pappkarton hervor, mit Folie beklebt und rotem und goldenem Glitzerstift bemalt. Der Glimmer blieb an ihren Fingern haften, als sie den Stern hochhielt.
    »Komm«, sagte Martin, bückte sich und breitete die Arme aus.
    Kylie wusste genau, was zu tun war. Sie schlang einen Arm um seinen Hals, hielt den Stern in der anderen. Martin hob sie hoch und ging mit ihr zum Baum. May hielt seine Hand, führte ihn näher heran, bis er die Zweige spürte und wusste, wo er stand. Sie sah, wie Kylie den Stern musterte, nach Initialen suchte.
    »Ist der von Natalie?«, fragte sie.
    »Nein, von mir«, sagte Martin. »Ich habe ihn gemacht, mit meinem Vater, vor langer, langer Zeit. Als ich ungefähr in deinem Alter war.«
    »Er hat dir dabei geholfen?«
    »Ja.«
    Dann hob er Kylie noch höher und beugte sich vor, so dass sie den Stern auf den obersten Zweigen des Baumes anbringen konnte. Kylie achtete darauf, ihn sicher zu befestigen. Martin zuckte mit keiner Wimper, ließ ihr alle Zeit, die sie brauchte. Dann sagte sie »fertig«, und er ließ sie herunter.
    »Wie sieht er aus?«, fragte er.
    »Perfekt.«
    »Er hat mir dabei geholfen«, sagte Martin abermals.
    »Das habt ihr gut gemacht«, lobte May. »Ein Stern wie aus dem Bilderbuch.«
    »Ich möchte meinen Vater sehen.«
    Mays Herz klopfte, als Martin ihre Hände nahm. »Auf dem Heimweg«, sagte er. »Glaubst du, es wäre ein großer Umweg, wenn wir über den New York Thruway zurückfahren? Wir könnten einen Abstecher im Gefängnis machen und danach auf dem Connecticut Turnpike nach Hause fahren.«
    »Ich glaube, das ist kein großer Umweg«, sagte May fest.
    »Nein«, meinte Martin, als hätte er eine Straßenkarte vor sich ausgebreitet. »Das glaube ich auch nicht.«

30
    A ls sie das Haus am See bereits zugesperrt hatten, kehrte May noch einmal zurück, weil Martin seine Tasche vergessen hatte. Sie stand direkt neben der Haustür. May ging vorsichtshalber noch einmal durch sämtliche Räume, um sich zu vergewissern, dass die Heizungen leicht aufgedreht waren, damit die Wasserleitungen nicht einfroren. Aber das war nur ein willkommener Vorwand: Sie brauchte noch einen Augenblick, um Abschied zu nehmen.
    Sie blickte über den schneebedeckten Garten zum Pavillon hinüber und sah den Sommertag wieder vor sich: Martin, Kylie und sie, im Kreise von Freunden und Familienangehörigen, die einander verbunden waren. Sie hatten durchbrennen und in aller Stille heiraten wollen, aber wie konnten sie, wenn es Menschen gab, die sie mit so viel Liebe umgaben?
    In all den Jahren, die sie mit Kylie allein verbracht hatte, und trotz des Gefühls, kein Glück in der Liebe zu haben, hatte sie nie aufgehört zu glauben, dass andere mehr Glück hatten. Ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Tante hatten Hochzeiten für Frauen geplant, die die große Liebe ihres Lebens gefunden hatten. Sie war Tobins Brautjungfer gewesen und hatte die Familie ihrer besten Freundin wachsen sehen, Dinge, die May tief in ihrem Innern für sich selbst niemals erwartet hatte, auch wenn Tobin immer das Gegenteil behauptet hatte.
    Und dann war sie Martin begegnet. Der Treueschwur bei der Trauung war das größte Versprechen, das sie jemals einem Menschen gegeben hatte. Die Worte bedeuteten ihr viel, und jetzt, wo sie am meisten zählten, waren sie ihr sogar noch wichtiger. Martin brauchte sie, aber sie brauchte ihn ebenfalls.
    Sie griff in die große Tasche ihrer Wolljacke und holte das blaue Notizbuch heraus. Manchmal war sie versucht, es an Ben Whitpen zu schicken, damit er es bei seinen Forschungsunterlagen aufbewahren konnte und sie es nie wieder
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