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Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Titel: Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
Autoren: Claudia Brockmann
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Und Nils Wagner wird ins Präsidium gebracht.
    Der Junge, den zwei Kommissare noch am gleichen Tag um 12:30 Uhr vernehmen, verzichtet auf einen Anwalt, will nur Kaffee trinken und ist einverstanden, mit »du« angeredet zu werden. »Es wurde dir gesagt, dass du im Verdacht stehst, Denise getötet zu haben«, sagt einer der Kommissare. »Ich will sagen, was geschehen ist«, sagt Nils. Und beginnt zu lügen.
    Wie es ihm gehe? »Echt beschissen«, sagt Nils. »Was heißt das?« – »Ich habe ein schlechtes Gewissen. Dieses kleine Mädchen. Ich hab es nicht getötet, aber ich war irgendwie Mittäter«, sagt Nils. Er liefert nun die erste Variante der Tat – es wird nicht die letzte sein. Sie geht so: Er trifft Denise im Treppenhaus, unterhält sich mit ihr. Sie verabschieden sich. Als er kurze Zeit später den Keller betritt, kommt ihm dort sein Freund Markus entgegen. Markus trägt Denise auf dem Arm. Die Lippen des Mädchens sind blau angelaufen. Es hat keinen Puls mehr und die Hände sind mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Gemeinsam mit Markus verschnürt Nils nun das tote Mädchen und packt es in einen Karton im Kellerabteil der Wagners. Später, gegen 23 Uhr, bringt er den Karton in die Abstellkammer der Familie.
    Die Beamten bitten Nils, den genauen Ablauf des Abends zu schildern. Er erzählt, wie Denise ihm im Treppenflur begegnete und er mit ihr sprach. Dann beschreibt er, welche Kleidung das Mädchen trug: Eine pinkfarbene Jacke, »aber da bin ich mir nicht sicher«, eine karierte Hose, »die Schuhe habe ich nicht angeschaut«. Und er sagt: »Ich bin mir aber ganz sicher, dass sie ein blaues Halstuch trug.« Ein blaues Halstuch, »ganz sicher«.
    Es ist eine dieser Lügen, die viel verraten können.
    Eine Vernehmung dient immer dazu, so viele Informationen wie möglich zu bekommen. Darum ist es oft sinnvoll, einen Verdächtigen erst mal lügen zu lassen. Denn auch Lügen sind Informationen. Zwar erzählt der Lügner nicht, was tatsächlich geschehen ist, aber seine Lügen sagen viel über ihn aus. Sie zeigen, dass er etwas Entscheidendes verbergen will, und geben uns dadurch Antworten: An welcher Stelle lügt er? Wovor fürchtet er sich? Wofür schämt er sich vielleicht? Welchen Eindruck will er von sich und der Tat vermitteln? Und welchen verhindern?
    Es ist manchmal frustrierend für die Vernehmenden, sich anlügen zu lassen. Gerne würden sie mit der Faust auf den Tisch hauen, wie es die Kommissare im Tatort machen. Aber wenn sich die Vernehmenden von Wut, Abscheu oder Verachtung leiten lassen, wird eines fast unmöglich: eine Beziehung zum Täter aufzubauen. Und diese ist absolut notwendig, damit der Täter redet. Viele Sexualstraftäter verschließen sich ohnehin sehr schnell, etwa aus Scham, Angst vor Strafe oder einem Machtbedürfnis: »Von mir hört ihr nichts! Ihr könnt mir gar nichts!« Die meisten haben in ihrem Leben genügend Erfahrungen mit Erniedrigung und Aggression gemacht und gelernt, wie sie mit Vorwürfen und Druck umgehen können. Sie starten einen Gegenangriff oder ziehen sich innerlich zurück und schweigen. Ein solcher Machtkampf darf nicht entstehen. Vor dieser Aufgabe stehen nun die beiden Kriminalbeamten.
    Im Wohnhaus stehen die Kollegen indes vor einer anderen Aufgabe. Die Spurensicherer sichern alles, was sie finden. In der Wohnung. In der Abstellkammer. Am Karton. In der Umgebung der Hochhäuser. Selbst Kleinigkeiten können bedeutsam sein: herumliegende Zigarettenkippen, Papiertücher, leere Flaschen. Die Kleidung des Verdächtigen wird beschlagnahmt, der Keller der Familie geöffnet, das Gerümpel inspiziert und Gewebespuren gesammelt. Alles wird abfotografiert, damit man den Originalzustand nachvollziehen kann. Skizzen werden gezeichnet. Der Gerichtsmediziner obduziert in der Zwischenzeit die Leiche. Sie alle beschaffen das Material, mit dem wir arbeiten können.
    Man hat meinen beiden Kolleginnen und mir ein kleines Büro im Präsidium frei geräumt. Dort schlagen wir bald einige Ordner auf. Papierblätter voller nüchterner Details: medizinische Befunde, chemische Analyseergebnisse und Listen von Gegenständen.
    Einige Tage zuvor habe ich noch der Mutter von Denise im Büro des Kripochefs gegenübergestanden, die ihre Kräfte sammelte, um ihren Eltern die Nachricht zu überbringen. Wir hatten uns entschieden, die beiden ins Präsidium zu rufen. Um auf einen weiteren Herzanfall des Großvaters vorbereitet zu sein, hatten wir einen Notarzt einbestellt, der im
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