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Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Titel: Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
Autoren: Claudia Brockmann
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unwahrscheinlich, dass Denise diese Worte gebraucht hat. Aber was geht dann im Kopf dieses Jungen vor, wenn er von einer 6-Jährigen redet, als wäre sie ein Teenager oder eine erwachsene Frau? Es hat eine unangemessene sexuelle Note. Und seine anderen Aussagen? Sie weisen in eine auffällige Richtung: möglichst weit weg von ihm selbst. Räumlich: In den Nachbarort habe das Mädchen fahren wollen, dort sollten wir suchen. Und auch moralisch: Er zeichnet ein Bild von sich als Beschützer, der ihr ins Gewissen geredet hat. Wenn wir ihm glauben, wäre er also ein »Guter«. Einen »Bösen« liefert er gleich dazu: jemand, der sie »im Wald vom Rad gezerrt« haben könnte. Dabei war ihm gegenüber von einem Verbrechen noch gar nicht die Rede.
    Das sind etliche rote Flaggen.
    Es ist bereits vier Uhr nachts, alle verfügbaren Beamten werden noch mal zur Siedlung geschickt. Nils Wagner wird aus dem Bett geklingelt, die Kellerabteile sollen geöffnet werden – auch ohne Durchsuchungsbeschluss, es ist Gefahr im Verzug, vielleicht liegt das Mädchen irgendwo gefesselt oder ist eingesperrt.
    Manchmal begegnen mir bei meiner Arbeit Dinge, die so furchtbar sind, dass es zunächst schwer nachzuvollziehen ist, wie ein Mensch so etwas tun kann. In den Medien werden in diesen Momenten schnell die Wörter »Bestie« oder »Monster« verwendet, obwohl wir alle wissen, dass es immer Menschen sind, die diese Verbrechen begehen. Das »Monströse« ist die Folge zahlreicher Umstände, die die Persönlichkeit eines Menschen so geprägt haben, dass er zu solchen Taten fähig ist. Selbst die furchtbarsten Verbrechen folgen einer inneren Logik. Auch wenn diese nicht in unsere eigene Vorstellungs- und Erlebenswelt passt.
    Um 5:30 Uhr klingeln mehrere Beamte an der Tür der Familie Wagner. Die Mutter ist verschlafen und überrascht. Die Polizisten wollen sich gerne die Wohnung ansehen und mit Nils sprechen. Mit Nils? Wegen Denise? Die Mutter kann es nicht fassen. Die Beamten durchsuchen die Wohnung. Schließlich tritt ein Kollege in die Abstellkammer, wo in einer Ecke, versteckt hinter einem Bügelbrett, ein großer Umzugskarton steht, als stünde er schon lange hier. Es ist dunkel. Der Beamte öffnet den Karton und greift hinein. Er berührt etwas, das sich wie Haare anfühlt. Er hofft, es ist eine Puppe. Es ist keine Puppe.
    Als die Mutter nun um sechs Uhr früh dem Kripochef, dem Einsatzleiter und mir gegenübersitzt, müssen wir ihr das schwer Begreifliche mitteilen.
    Der Kripochef sagt: »Es tut mir leid. Wir haben alles versucht. Wir haben Denise tot gefunden. Sie lag in der Abstellkammer der Familie Wagner.«
    Die Mutter weint, sie schluchzt, sie ist verzweifelt. Es ist die Realität, mit der sie sich auseinandersetzen muss. Niemand kann ihr das abnehmen oder erleichtern, indem er etwas beschönigt. Aus psychologischer Sicht ist es keine Hilfe, die Wahrheit in eine scheinbar erträgliche Variante umzuschreiben. Man hilft damit nicht dem Betroffenen, höchstens sich selbst. Vielleicht, weil man sich dem Leid nicht aussetzen will, das die Botschaft auslöst.
    Für die Angehörigen ist es wichtig, schon zu Beginn einer Suche zu erfahren, dass die Polizei nichts ausschließen kann, auch kein Verbrechen. Der Reflex mag sein, sie in solchen Momenten zu beruhigen und Hoffnung zu nähren: »Machen Sie sich keine Sorgen, wahrscheinlich hat sie sich nur irgendwo versteckt.« Aber wir müssen Vertrauen und Wahrhaftigkeit aufbauen. Das heißt, wir müssen auch signalisieren: Die Polizei nimmt Ihre Sorgen ernst, sie unternimmt alles und zieht alles in Betracht – auch, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte. Die Angst davor kann man den Angehörigen ohnehin nicht nehmen, sie ist automatisch da, wenn ein Kind vermisst wird. Wer glaubt, zu helfen, indem er eine Sorge ausredet, bewirkt manchmal das Gegenteil: Er schafft ein Tabu, der Betroffene wagt nicht mehr, darüber zu reden, obwohl es ihn weiter plagt. Da wir nun wissen, dass Denise nicht mehr lebt, müssen wir weiter ehrlich bleiben. Es wäre keine Hilfe zu behaupten: »Sie musste nicht leiden.« Die Mutter wird die Wahrheit ohnehin später in den Akten lesen.
    Die Mutter blickt auf. Am Nachmittag ist sie noch mit ihrer Tochter in einem geliehenen Cabrio durch die Stadt gefahren, die Kleine hat gejauchzt. Und dann ist Denise am Abend noch mal kurz rausgegangen und nicht mehr zurückgekommen. Die Mutter sagt, sie hätte gegen 18:30 Uhr auf einmal einen stechenden Schmerz gespürt. Dann sitzt
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