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Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)

Titel: Warum Menschen töten: Eine Polizeipsychologin ermittelt (German Edition)
Autoren: Claudia Brockmann
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sie einfach nur da. Sie spricht kein Wort mehr. Schweigt nur. Nach einigen Minuten blickt sie mich an. »Bin ich normal, weil ich so reagiere?« – »Das ist okay. Jeder reagiert anders«, sage ich.
    Was einem Leichenfund folgt, ist bittere Routine. Die Spurensicherung sammelt Faserspuren, Blutspuren und Fingerabdrücke. Der Rechtsmediziner untersucht die Leiche vor Ort. Alles wird abfotografiert, damit sich die Situation später rekonstruieren lässt. Dann wird die Leiche zur näheren Untersuchung in die Gerichtsmedizin gebracht. So geschieht es in dieser Nacht auch in der Wohnung der Familie Wagner. Das Material für unsere Arbeit wird gesammelt.
    Die Fallanalyse ist eine junge Disziplin, in Deutschland ist sie erst im Jahr 2000 eingeführt worden. Allerdings hat sie schnell große Bedeutung gewonnen. Jeder Ermittler, der Zeugen befragt, Verdächtige vernimmt oder einfach nur Vernehmungsprotokolle liest, entwickelt automatisch gewisse Hypothesen zu einem Tathergang. Das menschliche Denken ist darauf ausgerichtet, Details zu verknüpfen, sie zeitlich und logisch in Zusammenhang zu bringen. Man macht sich unwillkürlich ein Bild von einem Vorgang. Wer aber schon vorab ein solches Bild im Kopf hat, kann nicht mehr unvoreingenommen auf die objektiven Spuren blicken. Darum ist es sehr hilfreich, wenn eigens dafür ausgebildete Kriminalbeamte, Psychologen und Rechtsmediziner diese Spuren unabhängig von allen anderen Faktoren analysieren und so einen Tathergang rekonstruieren. Polizisten, Staatsanwälte und später auch Richter und Juristen bekommen dadurch ein eigenständiges Bild von einer Tat, das sie mit Zeugenaussagen und Geständnissen abgleichen können.
    Die Fallanalyse bietet eine weitere wichtige Chance: Wir können anhand des objektiv nachweisbaren Tatverhaltens ableiten, was in einem Täter vorgegangen sein könnte. Denn jede Tat befriedigt beim Täter zentrale Bedürfnisse. Die Art, wie jemand eine Tat ausführt, zeigt uns viel davon, wonach er sich sehnt. Und jedes Detail kann uns etwas darüber erzählen, auf welche Weise er gelernt hat, sich Befriedigung zu holen. Und auch, wie tief bestimmte Verhaltensmuster schon in seiner Psyche verankert sind.
    Wir können der Mutter in dieser Nacht noch nicht viel über die Tat sagen. Einzig, dass die Ermittlungen laufen und in welchem Zustand wir das Mädchen gefunden haben. Wir sagen ihr, dass wir bald die Presse informieren müssen, die uns sehr engagiert bei der Suchaktion unterstützt hat. Falls sie möchte, wäre es sinnvoll, engen Verwandten und Freunden vorher Bescheid zu sagen. Sie ist eine starke Frau, das wird sich auch später noch zeigen. Sie richtet sich auf und sagt: »Mein Vater soll es nicht aus der Presse erfahren. Er ist herzkrank.«
    Denise ist tot. Das Mädchen, das die Beamten im Karton gefunden haben, ist vollständig bekleidet. Um seinen Mund und Hals ist ein blaues Halstuch gewickelt. Seine Hände sind mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Seine Beine wurden mit einem dünnen Kabel verknotet, das über den Rücken zum Hals hochgezogen wurde, um den es sich noch einmal schlingt. Das Kabel ist so befestigt, dass es unter Spannung steht und das Opfer auf bizarre Art im Hohlkreuz hält. Auf dem Gesicht des Kindes liegt ein roter Nylonsack, der mit zwei Bändern hinter seinem Kopf verknotet ist.
    Der Täter muss in der Wohnung der Familie Wagner gewesen sein. Die Polizisten befragen alle Anwesenden. Denise habe an diesem Abend gegen 18:20 Uhr bei den Wagners geklingelt, um mit Mona zu spielen, aber die Familie wollte gerade Abendbrot essen, darum sei Denise wieder gegangen. Alle Familienmitglieder bis auf Nils seien in der Wohnung gewesen und hätten sie bis zur späteren Suche nach Denise nicht mehr verlassen: die Mutter, ihr Lebensgefährte, die kleine Tochter Mona. Auch Nils sei bald darauf in der Wohnung erschienen, habe sie dann aber sofort wieder verlassen, um eine Bohrmaschine aus dem Keller zu holen – das habe er später gesagt. Nils sei unaufgeregt gewesen, nicht nervös, ganz normal habe er sich verhalten. Aber er ist der Einzige, der während der Tatzeit die Wohnung verlassen hat.
    Nils? Kann ein Teenager eine solche Tat begehen? Mit einer derart brutalen Fesselung? Und danach so wirken, als sei nichts geschehen? Was ist genau geschehen?
    Wir nähern uns der Antwort nun von zwei Seiten. Vor Ort machen sich die Beamten auf die Suche nach dem Tatort, wo Spuren zu finden sind, aus denen wir vielleicht den Tathergang lesen können.
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