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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5
Autoren: Kristen Simmons
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Beth und Ryan hielten einander an den Händen, was durchaus reichte, um eine offizielle Vorladung wegen eines Sittlichkeitsvergehens zu riskieren, aber ich sagte nichts dazu. Die Einhaltung der Ausgangssperre würde erst in zwei Stunden kontrolliert werden, und Augenblicke wie dieser waren wie ein Stück gestohlener Freiheit.
    »Nicht so schnell, Ember«, rief Ryan.
    Stattdessen zog ich das Tempo an, entfernte mich von der Meute.
    »Lass sie in Ruhe«, hörte ich Beth flüstern. Mein Gesicht fühlte sich plötzlich ganz heiß an, als mir bewusst wurde, welchen Eindruck ich vermittelte: nicht den einer pflichtbewussten Freundin, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte, sondern den eines verbitterten dritten Rads, das den Anblick glücklicher Paare nicht ertragen konnte. Was gar nicht stimmte. Meistens.
    Verlegen passte ich mich Beth’ Tempo an.
    Für ein Mädchen war meine beste Freundin ziemlich groß. Ein Durcheinander dunkler Sommersprossen verteilte sich um ihre Nase, und der dichte Schopf kringeliger, roter Haare war an kühlen Tagen wie diesem einfach unbezwingbar. Sie tauschte Ryans Arm gegen meinen – woraufhin ich mich, wenn ich ehrlich bin, doch ein bisschen sicherer fühlte –, und wir tanzten, ohne ein Wort zu wechseln, auf Zehenspitzen um die mächtigen Risse im Gehweg herum, genau, wie wir es schon seit der vierten Klasse getan hatten.
    Als der Betonbelag von Kies abgelöst wurde, raffte ich meinen zu langen, khakifarbenen Rock auf der Vorderseite, damit der Saum nicht durch den Staub gezogen wurde. Ich hasste diesen Rock. Das passende, knöpfbare Oberteil war derart steif und kastenförmig, darin sah sogar die vollbusige Beth so flach aus wie ein Bügelbrett. Schuluniformen gehörten zu Präsident Scarboros neuem Moralstatut – einem der vielen, die nach dem Krieg in Kraft getreten waren – und sollten ein geschlechtsorientiertes Erscheinungsbild gewährleisten. Mir war nicht klar, auf welches Geschlecht sie mit diesem Outfit abzielten. Weiblich war es jedenfalls nicht.
    Aus purer Gewohnheit hielten wir an der Tankstelle an der Ecke inne. Obwohl dies die einzige noch geöffnete Tankstelle im ganzen Land war, schien das Gelände wie leergefegt. Nur die wenigsten Leute konnten sich heute noch ein Auto leisten.
    Wir gingen nie hinein. Dort mussten Snacks und Schokoriegel in den Regalen liegen, deren Preis zehnmal so hoch war als noch vor einem Jahr, und wir hatten schlicht kein Geld. Wir blieben dort, wo wir willkommen waren – draußen. Und knapp einen Meter entfernt von Hunderten winziger Gesichter, die auf einer Tafel hinter getöntem Glas gefangen waren. Über den Porträts stand zu lesen:
    VERMISST! SACHDIENLICHE HINWEISE IM FALL EINER SICHTUNG SIND UMGEHEND AN DAS FEDERAL BUREAU OF REFORMATION ZU RICHTEN!
    Schweigend musterten wir die Fotos der fortgelaufenen Pflegekinder und entflohenen Kriminellen auf der Suche nach einem bekannten Gesicht und hielten vor allem nach einer Person Ausschau: Katelyn Meadows. Ein Mädchen mit kastanienbraunem Haar und einem munteren Lächeln, das im vergangenen Jahr in meiner Geschichtsklasse an der Junior High gewesen war. Mrs Matthews hatte ihr gerade gesagt, dass sie die beste Zwischenprüfung der ganzen Klasse hingelegt hatte, als die Soldaten aufgetaucht waren und sie vor Gericht gezerrt hatten. »Verstoß gegen Artikel 1«, hatten sie gesagt. Verweigerung der Nationalreligion. Nicht, dass man sie dabei erwischt hätte, den Teufel anzubeten; sie hatte lediglich wegen des Pessach den Unterricht verpasst, was der Schulbehörde als unerlaubte Abwesenheit gemeldet worden war.
    Das war das letzte Mal, dass irgendjemand sie gesehen hatte.
    In der Woche darauf war Mrs Matthews gezwungen worden, die Bill of Rights aus dem Lehrplan zu streichen. Jegliche Erörterung des Themas war verboten, und die Soldaten, die vor der Tür und am Rekrutierungstisch postiert waren, sorgten dafür, dass das Verbot eingehalten wurde.
    Zwei Monate nach Katelyns Verhandlung war ihre Familie weggezogen. Ihre Telefonnummer wurde gelöscht. Es war, als hätte sie nie existiert.
    Katelyn und ich waren nicht befreundet gewesen, und es ging nicht darum, dass ich sie besonders gern gehabt hätte. Meiner Meinung nach war sie in Ordnung. Wir haben uns gegrüßt, viel mehr war da nicht. Aber seit ihrem plötzlichen Verschwinden brodelte etwas Finsteres in mir. Ich war wachsamer geworden. Befolgte die Statuten so gut ich nur konnte. Ich wollte in der Klasse nicht mehr vorn sitzen, und
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