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Waren Sie auch bei der Krönung?

Waren Sie auch bei der Krönung?

Titel: Waren Sie auch bei der Krönung?
Autoren: Paul Gallico
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seit es von der Holzwand heruntergekommen war.
    Gwenny sagte: «Ich hab sie gesehen, Mami, nicht wahr?»
    «Ja, mein Liebes. Du hast es uns ja gesagt. Aber du hast uns noch nicht erzählt, wie sie ausgesehen hat.»
    Ohne daß sich ihr Gesichtsausdruck auch nur im mindesten veränderte, zog sich Gwendoline sofort in jene innere Kammer zurück, in die Kinder flüchten, wenn man sie darüber verhört, wie es ihnen auf einer Party gefallen hat. Sie verschloß die Tür dieser seelischen Kammer. Mit ihrer Königin sicher vereint, konnte sie von niemandem erreicht werden. Ihr anderes Ich, das mit den Erwachsenen leben, sich mit ihnen abfinden und mit ihnen auskommen mußte, antwortete: «Sie war wunderschön.»
    Mrs. Clagg massierte die kalten, klammen Füßchen des Kindes. «Natürlich. Aber was hat sie getan?»
    Die für die Außenwelt bestimmte Gwenny erwiderte: «Sie fuhr in einer goldenen Kutsche wie Aschenbrödel, gezogen von acht weißen Pferden.»
    Will Clagg richtete sich auf. Mit einem gewaltigen Atemzug sog er beinahe die ganze Luft des Zimmers in seine mächtige Brust ein und atmete sie wieder mit einem unendlichen Seufzer der Erleichterung aus. Vielleicht hatten sie also Gwenny wirklich rechtzeitig zur Höhe der Barriere gehoben, ehe noch die königliche Kutsche ihrem Blick entzogen war. Es war ihm gelungen, das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, zu halten.
    Mrs. Clagg sagte: «Ganz richtig, Gwenny. Und wie war sie angezogen?»
    Gwenny antwortete: «Ein goldenes Kleid und eine goldene Krone. Und oben auf der goldenen Krone war ein Schmetterling aus Gold. Seine Augen waren echte Diamanten, und seine Flügel waren aus Perlen.»
    Ihre Mutter sagte: «Aber Gwenny, genauso sieht doch die Schmetterlingprinzessin in deinem Märchenbuch aus.»
    Gwenny nickte in ernstem Einverständnis. «Ganz richtig», sagte sie.
    Will Clagg empfand, wie ihn die Enttäuschung übermannte. Er fragte: «Was hast du sonst noch gesehen, Gwenny?»
    «Der Prinz saß neben ihr. Er war ganz in Weiß gekleidet. Er warf mir eine Kußhand zu.»
    Will und Violet Clagg tauschten einen Blick aus; sie waren, so wie alle Eltern, zu der Erkenntnis gekommen, daß in den geheimen Geisteskammern ihrer Kinder Tatsache und Phantasie nebeneinander wohnen und daß man, wenn man sie befragt, niemals weiß, über welche Schwelle sie treten würden, ehe sie antworten. Hatte sie an diesem Tag die Königin gesehen, wie sie es sich so heiß gewünscht hatte, oder nicht? Und wenn nicht, was hatte sie dann gesehen? Will und Violet Clagg wurden sich dessen bewußt, daß sie das wohl niemals erfahren würden und daß es keinen Zweck hatte, sie weiter auszufragen.
    Die Großmutter kam mit dem Teetablett herein, auf dem auch eine halbe Flasche Gin mit drei Gläsern und ein paar Kekse waren. Johnnys Augen leuchteten auf, als er Tee und Kekse sah, und sie setzten sich alle wieder an den Tisch. Die Behaglichkeit des Heims machte sich geltend, und die Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen begannen bereits zu verblassen.

    Jeder von ihnen hatte ein kostbares Andenken mit heimgebracht an diesen Tag, der einer Katastrophe so ähnlich war, aber ihnen jetzt nicht mehr so erschien. Sie hatten mit ihren Opfern der jungen Königin eine Gabe dargebracht, und es war, als ob die Herrscherin ihrerseits einen jeden von ihnen unerwartet beschenkt hätte.
    Die seltsamste dieser Wohltaten wurde vielleicht der Großmutter zuteil, als sie jetzt im Kreise ihrer Familie saß. Sie war 73 Jahre alt und hatte einen Tag hinter sich, der nicht nur seelisch aufregend war, sondern auch körperlich anstrengend und ermüdend. Der Regen hatte sie durchnäßt, sie war gestoßen und gepufft worden, sie hatte stundenlang gestanden, und sie fühlte sich jetzt ungemein wohl; ja, sie hatte sich in ihrem ganzen Leben nicht wohler gefühlt.
    Alte Leute denken über den Tod nach. Sie sind Krankheiten und Gebrechen unterworfen, und ihr Körper erinnert sie ständig daran, daß ihre Tage gezählt sind. Selbstverständlich wäre die Großmutter nie und nimmer bereit gewesen, ihrer Familie zu verraten, was ihr dieser Tag klargemacht hatte, nämlich daß sie eine wohlerhaltene, gesunde und kräftige Frau war, der vermutlich noch viele Tage vergönnt waren, um nach dem Rechten sehen zu können. Es war, als ob sie nach einer ärztlichen Untersuchung den Befund erhalten hätte: Sie sind vollkommen gesund, Mrs. Bonner, Sie werden hundert Jahre alt werden.
    Sie wollte natürlich nicht hundert Jahre alt werden und den
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