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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde
Autoren: Maike Maja Nowak
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kaputt!«
    Reisende stecken interessiert den Kopf herein. 1991 zählen Kontaktlinsen noch nicht zu den Dingen, die man in Russland kennen muss.
    Ein junger Mann springt mir rettend zur Seite. Er scheint der Einzige zu sein, der versteht, worum es geht. Er formt mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Kreis und hält ihn sich ans Auge. Ich nicke heftig und rufe, » Da, da, da! « (»Ja, ja, ja!«) und zeige nach unten. Der junge Mann erklärt der Zugbegleiterin und den Reisenden, was eine Kontaktlinse ist. Er sagt, ich habe quasi meine »Brille« verloren, ein Glas, das ins Auge passe, wie er es plastisch beschreibt, woraufhin die Uniformierte sofort auf Zehenspitzen die Toilette verlässt und gemeinsam mit den Reisenden mit großen Augen auf die Entdeckung des unbekannten Dinges wartet.
    Der junge Mann beugt sich vom Gang aus über den Boden des Toilettenraumes und zeigt mir alles, was ungefähr die Größe einer Linse hat. Im elften Gegenstand, bei dem ich zunächst verneine, erkenne ich plötzlich meine Linse, die sich farblich und von ihrer Dicke sehr verändert hat. Ich hebe sie hoch und verkünde den gespannt wartenden Zuschauern: »Das ist sie.« Ihre irritierten und leicht angewiderten Blicke zeigen deutlich, dass sie sich einen solchen Klumpen nicht ins Auge setzen würden. Zurück an meinem Platz muss auch ich auf meine Brille umsteigen.
    Die Nacht verläuft in Anbetracht der vielen Mitreisenden erstaunlich ruhig. Mitunter erwache ich, weil wir in einem Bahnhof halten. Das Schnauben des Zuges klingt wie der Atem eines riesigen, friedlichen Tieres, in dessen Bauch ich sicher bin.
    Als die Zugbegleiterin uns weckt, holt sie mich aus einem tiefen Schlaf. Der Zug spuckt uns in den kalten Morgennebel. Die Bahnhofsuhr über einem Bild von Lenin zeigt 5:13 Uhr.
    Schlaftrunken und tiefgefroren stolpere ich hinter Vera her, die auf ein mir unbekanntes Ziel zusteuert. (Vera hat die Neigung, mich nur über das Allernötigste zu informieren und die Details für sich zu behalten, weil es oft zu mühsam ist, mir alles erklären zu wollen.) Sie klingelt an einem Haus gegenüber des Bahnhofs mit der Aufschrift »Klub«. Beinahe im selben Moment wird die Tür aufgerissen, und zwei kräftige Frauen stürmen laut und schnell redend auf uns zu. Wir werden umarmt, die Rucksackkugeln werden uns vom Rücken gerissen und der Blick auf einen langen Gang freigegeben.
    Eine zierliche Frau mit wild gelocktem rotem Haar und energischem Gang kommt uns strahlend entgegen. Ihr Lachen enthüllt mehrere Goldzähne. Sie umarmt Vera, nimmt meine Hand in ihre Hände und sagt mit blitzenden Augen: »Tamara Nikolajewna! Ich leite den Klub.«
    In einem Büro, das wie fast alle öffentlichen Räume in Russland eine Dimension hat, die dem spärlichen Inventar nicht angemessen ist, erwartet uns ein Tisch mit dampfenden Kartoffeln, Sauerkraut, Fleisch und Fisch. Es ist 5:30 Uhr. Seit ich erwachsen bin, erwacht mein Appetit erst gegen Mittag. Doch es hilft kein Protest. Entschuldigungen sind zwecklos. Bei Tamara wird gegessen!
    Die Kartoffeln und das Fleisch liegen mir wie Blei im Magen. Ich bin müde. Im Niemandsland. Und ich weiß nicht, wann die Reise enden wird. »Vera, wann geht es weiter?«
    »Bald«, lautet ihre Antwort – wie immer auf eine solche Frage.
    Die Zeit vergeht. Ich versuche, dem Gespräch in der Runde zu folgen, und zücke meine derzeitige »Bibel«, das Wörterbuch. Mit freundlicher Geduld nehmen die Anwesenden (wie bisher alle Russen) hin, dass ich mich nur mit Aussagen am Gespräch beteilige, die gut zum vorletzten Thema gepasst hätten – wenn ich da bereits die Vokabeln gewusst hätte, die ich im Wörterbuch erst suchen musste.
    »Was findet denn hier im Klub statt?«, versuche ich es mit einer Frage.
    Tamaras Gesicht erglüht. »Wir sind das Herz der Stadt. Zu uns kommt Jung und Alt. Die Kinder lernen hier im Klub, Instrumente zu spielen und zu tanzen. Die Jugendlichen kommen hier in die Diskothek, die Erwachsenen in den Chor, zum Theaterspielen oder zu Konzerten. Und der Zirkus gastiert im Klub, wenn er in der Stadt ist«, fügt sie stolz hinzu.
    Später werde ich erleben, dass Tamara in der 29 000 Einwohner zählenden Stadt bekannter ist als der Bürgermeister. Sie wird es sein, die zu jeder Zeit einen Fahrer auftreiben kann, wenn ich später nach einer Reise in Veras Dorf zurückkehren will. Steht kein Fahrer zur Verfügung, darf es auch einmal die Feuerwehr sein oder der Bürgermeister höchstpersönlich, der gerade in
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