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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde
Autoren: Maike Maja Nowak
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außergewöhnliches Konzert geben sollten. So beschloss ich, zu diesem Konzert zu gehen, nicht ahnend, dass dieser Abend mein Leben verändern würde.
    Die Namen der Dichter, deren Texte die Künstlerinnen Vera Ewuschkina und Lena Frolowa vertont hatten, waren mir allesamt bekannt: Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak. Allein einen Namen, der an diesem Abend immer wieder gefallen war, konnte ich nicht zuordnen: Marina Zwetajewa.
    Später sollte ich erfahren, dass auch Vera und Lena erst einige Jahre zuvor in Berührung mit dieser Dichterin gekommen waren, die sowohl unter Stalin als auch unter dem kommunistischen Regime »nicht erwünscht« gewesen war. Erst mit Gorbatschow hatte Zwetajewa die Würdigung und Anerkennung erfahren, die ihr für ihre große sprachliche Begabung und ihre mutig gewählten Themen zustanden.
    Seitdem lieben die Russen Zwetajewa mit einer Hingabe, die ich in Deutschland im Zusammenhang mit einem Dichter so nicht kenne. Zu Beginn meines Aufenthaltes in Moskau stand einmal im Bus ein russischer Arbeiter in blauem Overall auf und rezitierte ein Gedicht von ihr, woraufhin die Mitfahrenden begeistert applaudierten. Um fünf Uhr morgens wurden in Moskauer Radiosendern Gedichte rezitiert, abends im Fernsehen ebenso. Man stelle sich so etwas in der deutschen Medienlandschaft vor! Auch bei Zusammenkünften unter Freunden durfte das Rezitieren von Gedichten nie fehlen. Gedichte waren zu dieser Zeit in Russland noch »Brot für die Seele«.
    In der Nacht nach dem Konzert der beiden russischen Künstlerinnen entdeckte ich zu Hause in meinem Fach für ungelesene Bücher einen Gedichtband von Marina Zwetajewa – in der deutschen Übersetzung von Elke Erb. Dunkel erinnerte ich mich, dass mir Ende der Achtzigerjahre mein damaliger Lebensgefährte dieses Buch mit den Worten geschenkt hatte: »Ich glaube, ihr seid euch ähnlich.« Nun stand ich auf meiner kleinen Lesetreppe und begann in den deutschen Nachdichtungen zu blättern.
    Ich weiß nicht, wann ich mich auf die Treppe setzte. Morgens um 4:30 Uhr hörte ich die Vögel zwitschern. Ich hatte das Buch ausgelesen und ein emotionales Zuhause gefunden.
    Zwetajewa gab mir die Worte, die ich in meiner damaligen Lebenssituation niemals gefunden hätte. Das künstlerische Wort unterscheidet sich von Tagebucheinträgen ja gerade durch seine besondere Reflexion. Dazu braucht es Abstand.
    Mit der westdeutschen Mentalität verband mich bis zu diesem Zeitpunkt nichts, einfach deswegen, weil ich im Osten aufgewachsen war und immer dort gelebt hatte. Während meine neue Westberliner Freundin Anna ihre Ansichten und ihre Art zu leben behalten konnte, musste ich – wie jeder Ostdeutsche – erst ein Gefühl für das Neue, mir Unvertraute entwickeln und mein altes Leben irgendwie mit diesem vereinen. Eine künstlerische Sicht auf das Neue wäre mir deshalb in keiner Weise möglich gewesen, mir mangelte es einfach an der dazu nötigen Distanz. Ich war eine Liedermacherin, der plötzlich die Worte fehlten. Zwetajewa jedoch hatte sie. Ihre nuancierte Form der Trauer, die nie ins Selbstmitleid abgleitet, ihre Kraft zu lieben, ihr Ausdruck von Schmerz, ihr Aufbegehren, ihr Mut und ihre Unbestechlichkeit halfen mir.
    Noch am selben Morgen setzte ich mich mit meiner Gitarre vor ein kleines Aufnahmegerät und vertonte eines ihrer Gedichte, das mir sofort nahegegangen war:
    Du kannst die Glut der Sonne schwächen,
    Lässt mich in deiner Hand Sterne sehn!
    Ach, plötzlich bei dir einzubrechen,
    Ein Windstoß, wenn die Türen offen stehn!
    Um stammelnd meine Scheu zu zeigen,
    Um hilfesuchend zu erröten: sieh!
    Um aufzuschluchzen und zu schweigen,
    Wie in der Kindheit, als man mir verzieh. 1
    (2. Juli 1916)
    Um 6:30 Uhr stand ich mit meinem fertigen Lied vor der Tür des Mannes, der mir das Buch geschenkt hatte und mit dem mich noch immer eine tiefe Freundschaft verband. Als Nachtmensch und Langschläfer augenscheinlich nicht sehr glücklich über die frühe Störung, öffnete er mir die Tür.
    »Ich habe Zwetajewa entdeckt!«, rief ich voll Adrenalin.
    Er wuschelte sich durch die Haare und sagte gähnend: »Das wird ja auch Zeit.«
    Einen Tag später beschloss ich, Russisch zu lernen, um Zwetajewa im Original vertonen zu können. Mein Schulrussisch lag zu diesem Zeitpunkt bereits sechzehn Jahre zurück, und ich konnte mich an gerade einmal fünf Vokabeln erinnern – »Guten Tag«, »Auf Wiedersehen«, »Ferien«, »Bitte«, »Danke«. Es blieben drei Wege:
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