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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde
Autoren: Maike Maja Nowak
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ablehnte.
    Vera ist ein Waisenkind und bei ihrer Großmutter aufgewachsen, die starb, als Vera sechs Jahre alt war. Die Babuschkas (Großmütter) des neuen Dorfes seien nun Familienersatz für sie. Und es lebten, wie sie mir erzählte, bis auf ein paar wenige Djeduschkas (Großväter), nur Großmütter im Dorf, das insgesamt sechsundachtzig Einwohner zählt.
    Eine Strategie von Vera bestand darin, mir immer wieder Fotos des Dorfes zu präsentieren. Dass diese gut gemeinte Methode bei mir genau den gegenteiligen Effekt hervorrief, entging ihr vollkommen. »Das ist mein Haus«, sagte sie und zeigte mir eine winzige Blockhütte. »Ein Zimmer«, fügte sie stolz hinzu, was mich erheiterte, denn ein Haus mit weniger als einem Zimmer habe ich noch nie gesehen.
    Ich schwankte zwischen Rührung und Panik vor dem, was mir eventuell bevorstand. Veras Stolz und die Liebe, mit der sie von diesem Dorf sprach, sowie ihre Zuneigung zu den Großmüttern bewegten und befremdeten mich zugleich. Ich liebte einen Ort weder so sehr, dass ich in dieser Weise von ihm sprechen konnte, noch hatte ich je eine Großmutter um mich gehabt. Alte Menschen kannte ich nur vom Sehen, Berührungen mit ihnen waren mir nicht vertraut. Für mich war Veras Dorf vor allem ein Ort mit Menschen, von denen der jüngste fünfundsechzig und der älteste hundertdrei Jahre alt war, wie sie mir erzählt hatte. Ein Dorf, von dem ich den Rückweg nach Moskau allein niemals finden würde, wenn ich von dort wieder wegwollte. Und ich spürte bereits jetzt einen starken Fluchtinstinkt.
    Die alten Frauen auf den Fotos blickten ernst in die Kamera. Sie hatten die Arme vor der Brust verschränkt und ihre Gesichter glichen Gesetzbüchern. Jede Falte war ein mir unbekannter Paragraph. In den Zäunen um die Häuser war alles verbaut, was seinen Zweck erfüllte – Eisengitter, Stöcke, Latten und Bretter. Die Holzhäuser standen schief in der Landschaft wie sinkende Schiffe. Offenbar waren sie den Gezeiten des Sandbodens ausgeliefert.
    Auf einem anderen Foto versuchte ein rotnasiger Djeduschka, auf dem Bock eines Pferdefuhrwerks die Balance zu halten. Mit einer Hand hielt er sich am Wagen fest, mit der anderen schlug er mit den Zügeln auf ein klapperdürres schwarzes Pferd ein. Das Fuhrwerk hatte Holzräder und war damit tief in den Sand eingesunken.
    Ich war ratlos. Was sollte ich an einem solchen Ort? Ich, eine bewegte Leipziger Stadtpflanze. Eine quirlige Wahl-Berlinerin. Eine betriebsame Moskau-Erforscherin. In der Stille. Mit alten Menschen. Ohne »was los« drumherum.
    Ich hatte Angst.
    »Zehn Tage«, sagte Vera. »Mindestens zehn Tage, sonst lohnt es sich nicht.«
    Als ich mich unserer Freundschaft zuliebe geschlagen gab, wurde es einfacher. »Zehn Tage gehen vorbei«, sprach ich mir Mut zu. »Mit meinen neunundzwanzig Jahren werde ich es als eine Art Lebenserfahrung nehmen.«
    »Sterben werde ich sicher nicht«, lautete ein Satz, der ebenfalls Trost spendete.
    An einem heißen Augusttag kauft Vera auf einem Rynok (Markt) Konfekt, Taschenlampen und Rasierer, Konserven, Kaffee, Kerzen und allerlei mehr. Mein Rucksack ist klein. Ich schnalle ihn mir vor die Brust. Auf dem Rücken habe ich ebenfalls eine Art Rucksack. Vera bat mich, die riesige unförmige Kugel zu tragen, sie gleicht derjenigen auf ihrem eigenen Rücken.
    Mein Russisch ist zu dieser Zeit noch zu schlecht, um bereits alles verstehen zu können, aber zu gut, um nicht fatalerweise oft zu denken, ich hätte alles verstanden. So fühle ich mich nun von Veras Worten »Zug«, »Fluss«, »Dorf«, »Wald« und »nicht weit weg« bereits ausreichend informiert. Meiner Meinung nach fahren wir auf Veras Datscha in einen Vorort von Moskau. Dort erwartet uns das Dorf, das an einem Fluss am Waldrand liegt. Wenngleich sich diese Beschreibung für mich nach viel zu viel Natur anhört (ich atme ja sonst nur Bühnenluft und Zigarettenrauch), schwimme ich doch sehr gern und bin daher zumindest über die Existenz des Flusses froh.
    Um 18 Uhr steigen wir in den Zug. Die Endstation sei weit entfernt, und so gebe es im Zug nur Liegeplätze, wie Vera mir erklärt. Wir reisen in einem offenen Liegewagen mit weiteren vierzig Reisenden. Ich deponiere meine Rucksackkugel auf der unteren Pritsche, dann hieven wir gemeinsam Veras Kugel in ein Regal über der oberen Pritsche. Vera ruft mir im Weggehen noch etwas zu, aber ich verstehe es nicht. Ich setze mich auf die untere Pritsche und behalte meinen kleinen Rucksack auf dem
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