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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde
Autoren: Maike Maja Nowak
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Schoß.
    Nach kurzer Zeit kehrt Vera zurück, sie trägt Bettwäsche über dem Arm. Meine Augen weiten sich.
    »Wofür?«, frage ich – vage hoffend, Vera möge mit ihrer Antwort meine Befürchtungen zerstreuen.
    Stattdessen holt sie von der oberen Pritsche eine zusammengerollte Matratze, eine Decke und ein Kissen herunter. »Zum Schlafen«, sagt sie und gibt mir Bettwäsche.
    »Aber wie weit ist es denn?«
    »Nicht weit«, wiederholt sie noch einmal ihre frühere Aussage. »Wir sind bereits morgen früh um 5 Uhr da.«
    Verdrossen und vor allem auch ängstlich, wo ich landen werde, beziehe ich mein Bett. Um uns herum wird zu Abend gegessen, es herrscht eine entspannte Stimmung, und nachdem der Nachbar uns Wodka angeboten hat, beginne ich mich in mein Schicksal zu fügen.
    Plötzlich geht das Zugradio aus, und das Licht wird gelöscht.
    »Oh, schon 22 Uhr«, sagt Vera.
    »Was heißt das?«, frage ich.
    »Wir haben kein Licht mehr«, antwortet sie.
    »Aber wir müssen das Licht noch einmal anmachen, ich muss meine Kontaktlinsen herausnehmen.« Ich gerate in Panik. Meine Linsen sind nach jahrzehntelangem Brilletragen meine einzige kostbare Errungenschaft aus dem westlichen Deutschland. Ich hüte sie wie meinen Augapfel, denn in gewisser Weise sind sie ja genau das. Ich bin im Einsetzen und Herausnehmen jedoch noch so ungeübt, dass ich es – wenn weder die Linsen noch ich selbst Schaden nehmen sollen – nur vor einem Spiegel kann.
    »Hier geht jetzt kein Licht mehr an«, sagt Vera. Tatsächlich findet sich nicht einmal eine kleine Leselampe. »Du kannst auf die Toilette gehen«, kommt ihr dann der rettende Einfall.
    Vor der Toilette steht eine Schlange von ungefähr zehn Menschen. Viele von ihnen haben ein Zughandtuch um den Nacken gelegt und halten Zahnputzzeug in der Hand. Der Zug schlingert im Gleisbett hin und her und mit ihm unsere Schlange, die abwechselnd von einer Wandseite des Ganges auf die andere geworfen wird.
    Als die Frau vor mir wieder aus der Toilette kommt, gehe ich hinein. Ich versuche instinktiv, nur den Vorderteil meiner Schuhe mit dem in Berührung zu bringen, was dort auf dem Boden schwimmt. Über dem Spiegel brennt eine Funzel, die zwar den nassen Untergrund sehr angenehm im Halbdunkel lässt, aber auch mein Vorhaben erschwert.
    Ich starre in den milchigen Spiegel, konzentriere mich, ziehe mit einer Hand das untere und mit der anderen das obere Lid vom Augapfel und will mit zwei Fingern vorsichtig die Linse greifen, als ich von einem Schlingern des Zuges zur Seite geworfen werde und mich gerade noch abfangen kann. Meine Schuhe berühren jetzt ganzflächig den Boden … Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelingt es mir endlich, die Linse herauszunehmen und in ihren Behälter zu legen. Ich atme tief aus.
    Es klopft.
    » Minutotschku « (»eine Minute«), rufe ich, erschrocken darüber, wie lange ich offenbar schon den Verkehr aufhalte. Ich greife an mein anderes Auge, werde zur Seite geschleudert und spüre, wie die bereits erfasste Linse im letzten Moment zwischen meinen Fingern davonspringt.
    Ins Niemandsland.
    Ich sehe mit -8,0 Dioptrien nur noch große, nahe Dinge. Keine Details.
    Es klopft mehrfach. Ich gerate in Panik.
    » Minutotschku! «, rufe ich mit einem Flehen in der Stimme und bekomme einen Schweißausbruch. In meiner jetzigen Situation könnte ich nicht einmal zu meinem Platz zurückfinden. Ich muss die erste Linse wieder einsetzen, um die zweite zu suchen.
    Es hämmert gegen die Tür. » Otkryvai! Dezhurnaja! « (»Aufmachen! Hier ist die Verantwortliche!«) In jedem Waggon gibt es eine zuständige Zugbegleiterin.
    » Linza, Linza upala!!! « (»Linse, Linse heruntergefallen!!!«), rufe ich verzweifelt durch die Tür. Wie durch ein Wunder gelingt es mir, die erste Linse wieder auf das rechte Auge zu setzen. Mein Blick schweift eilig umher, um die verlorene Linse zu finden. Meine Hoffnung, dass sie im Waschbecken gelandet ist, erfüllt sich nicht.
    Der Türverschluss dreht sich, und die Tür geht auf.
    Ich stemme mich erschrocken dagegen und rufe, den Tritt fremder Füße auf meine Linse befürchtend: » Stopp! Linza! Stopp kaputt! «
    Von der anderen Seite schiebt die Zugbegleiterin und sagt jetzt sehr energisch: » Davai otkryvai! « (»Sofort öffnen!«)
    Ich gebe auf. Eine kräftige Uniformierte schiebt sich in die Toilette und schaut sich mit fragendem Blick um.
    Ich deute verzweifelt auf den Boden und sage noch einmal in meinem Kinderrussisch: » Stopp! Linza! Stopp
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