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Wanja und die wilden Hunde

Wanja und die wilden Hunde

Titel: Wanja und die wilden Hunde
Autoren: Maike Maja Nowak
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Sachen. Ich greife mir eines der Schlauchbootventile und ziehe am Stöpsel, um die Luft herauszulassen.
    »Nein, nein. Es kommt noch ein Fluss!«, ruft Vera, reißt mir den Stöpsel aus der Hand und steckt ihn wieder hinein.
    »Wann?«, frage ich.
    Sie hebt die Schultern und antwortet: »In ungefähr drei Stunden.«
    Das ist zu viel für mich. Es ist der Moment, an dem ich mein Verlangen, die Kontrolle zu behalten, aufgebe. Mein Rucksack hängt leer und zusammengefallen auf meinem Rücken. Wir tragen das Schlauchboot in der Mitte. Grashüpfer eskortieren uns und springen bei jedem unserer Schritte in die Höhe, die Sonne scheint, wir laufen durch eine völlig unberührte Landschaft.
    Vera erzählt mir von der inzwischen zugewachsenen Straße und von den kaputten Brücken, die in den Flüssen liegen. »Vor der Perestroika konnten alle von der Arbeit in der Kolchose leben. Nach deren Schließung mussten die jungen Leute weggehen, um zu überleben.«
    »Aber wie gelangen denn die Bauern ohne Straße und Brücken aus dem Dorf in die nächste Stadt?«, frage ich verwundert.
    »Niemand will dort weg«, erwidert Vera.
    Ich kann mir in diesem Moment nicht vorstellen, aus einem Dorf nie wieder wegzuwollen. »Aber wie können denn ihre Kinder und Enkelkinder zu Besuch kommen?«, frage ich.
    »Im Winter, wenn die Flüsse zugefroren sind, kommen sie mit dem Auto, feiern zusammen ins neue Jahr und nehmen Kartoffeln und Eingemachtes mit zurück. Für den Rest des Jahres sind die Alten auf sich allein gestellt.« Ich hatte bislang nicht gewusst, dass es in Russland Orte gibt, die vom Rest der Welt abgeschnitten sind.
    Wir wechseln die Seiten und unser Gepäck, und ich nehme Veras Kugelrucksack auf den Rücken. Seltsamerweise ist mein Unmut über diese Reise seit der Zugfahrt verflogen und seit der Flussüberquerung auch meine Ungeduld verschwunden. Ich genieße das gleichmäßige Schlurfen der Grashalme unter dem Schlauchboot, den Geruch der Dürre, der mich an heiße Kindersommer erinnert, und die absolute Stille, verbunden mit dem Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Ich bewundere Veras Orientierungssinn. Sie findet sich in einer wilden Landschaft zurecht, die etwa 18 Kilometer lang keinen einzigen Weg aufweist.
    Hinter einem kleinen Hügel erscheint der zweite Fluss. Ganz anders als der erste liegt er ruhig und geheimnisvoll glänzend vor uns. Er nimmt uns ohne Strömung auf, und wir schwimmen mühelos auf die andere Seite, wo bereits ein paar Häuserdächer zu erkennen sind. Am Ufer angekommen überkommt mich plötzlich ein Gefühl von Glück, ohne dass ich einen Grund dafür nennen könnte.
    Wir sind in Lipowka.
    Neugierig laufe ich mit Vera durch den tiefen, hellen Sand des Dorfes und bestaune die alten Holzhäuser mit ihren bunten Verzierungen, die ich so bisher nur aus russischen Märchenfilmen kannte. Wir treffen eine Babuschka, die freundlich grüßt, in ihr Haus läuft und mit einem Eierkuchen und Tomaten wieder herauskommt. Beides drückt sie Vera in die Hand. Sie spricht in einem mir unbekannten Dialekt, den ich leider nicht verstehe.
    Veras Haus ist aus großen runden Stämmen gebaut. Innen duftet es angenehm nach Holz. Es gibt nur ein Bett, in das wir, todmüde von der Reise, fallen. Die Matratze ist mit Heu gefüllt. Ich schlafe fast augenblicklich ein.
    Inmitten eines Traumes vernehme ich das Klappern von Blech. Ich schlage die Augen auf und sehe Vera mit einem Wasserträger, an dessen Enden je ein Eimer hängt, ins Zimmer kommen. Sie verschwindet hinter einem Vorhang neben dem Bett, und ich höre das Geräusch von fließendem Wasser, das in einen Behälter gegossen wird. Ich schlage den Vorhang zur Seite und schaue in einen kleinen Raum, der offensichtlich als Küche genutzt wird. Vera füllt das Wasser in einen großen Zuber und in einen kleinen Plastikbehälter über einem winzigen Waschbecken, unter dem wiederum ein Eimer steht. Dann drückt sie von unten gegen einen Stab, der aus dem Plastikbehälter hervorschaut, und Wasser läuft heraus. Geschickt wäscht sie sich die Hände, indem sie mit dem Handrücken den Stab gedrückt hält und die andere Hand gegen die Handfläche reibt.
    Das benutzte Wasser läuft durch das Waschbecken in den Eimer, der darunter steht.
    »Bleib ruhig noch liegen, ich mache dir Tee«, ruft Vera mir zu, als sie sieht, dass sich der Vorhang bewegt.
    Ich fühle mich seltsam erfrischt und unternehmungslustig und sage: »Bitte später. Ich möchte erst ein wenig spazieren gehen und das
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