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Walkueren

Walkueren

Titel: Walkueren
Autoren: Þráinn Bertelsson
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Schneeflocken verwandelten sich in Regen.
    Gegen halb zwei langweilte Elín sich so sehr, dass sie ihr Schweigegelübde lockerte und Víkingur flüsternd ansprach. Da er nicht antwortete, stand sie vom Bett auf und schlich ins Badezimmer. Víkingur saß kerzengerade auf der Toilette und schlief tief und fest mit geöffnetem Mund. Wirklich eine tolle Leistung, unter diesen Umständen schlafen zu können. Sie stieß ihn vorsichtig an und wich sofort zurück, für den Fall, dass er jäh erwachen und aufspringen würde. Aber er öffnete ganz ruhig die Augen und schaute sie fragend an.
    »Stimmt was nicht?«, fragte er.
    »Du hast geschlafen«, sagte sie.
    »Ich hab dich bemerkt«, sagte er. »Keine Angst. Ich halte mich wach.«
    »Ich habe keine Angst«, entgegnete sie. »Glaubst du, ich habe Angst, weil ich eine Frau bin?«
    »Nein«, sagte er. »Ich habe das nur gesagt, weil wir auf einen sehr gefährlichen Mann warten – falls du Recht behältst.«
    »Ich werde Recht behalten«, sagte sie. »Wart’s ab.«
     
    Zweifellos wies einiges darauf hin, dass Elín Recht behalten würde, sonst hätte Víkingur sich nicht zu diesem nächtlichen Abenteuer überreden lassen. Als sie mit ihm losfuhr, fragte er, wohin die Reise denn gehen solle und ob sie ihm nicht den Zweck dieser Spritztour erklären wolle.
    »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete sie.
    »Dann versuch mal, sie zusammenzufassen«, sagte Víkingur. Er traute seinen Ohren nicht, als er den Zweck der Reise erfuhr.
    Nach dieser Einleitung erzählte Elín ihm, Eysteinn Brandsson habe aus eigener Initiative – aber mit Wissen der Landespolizeichefin – engen Kontakt zu Freyja Hilmarsdóttir aufgebaut, nachdem die Nachricht über das geplante Enthüllungsbuch erschienen war. Er hatte sie in einer Bar abgepasst, einem bekannten Treffpunkt für Schwule und Lesben.
    Eysteinn hatte Freyja erzählt, er arbeite bei einer Behörde, sei frisch geschieden und sich nicht ganz sicher über seine sexuelle Orientierung, also ob er homo- oder bisexuell sei. Er hatte in den höchsten Tönen von ihrem Buch ›Bettfreuden‹ geschwärmt und erklärt, sie hätte ihm die Augen dafür geöffnet, dass man seine sexuellen Neigungen nicht unterdrücken soll. Freyja hatte ihm im Gegenzug anvertraut, sie sei bisexuell, und es hatte nicht lange gedauert, und sie waren ein Paar. Glaubte sie zumindest.
    »Meiner Meinung nach«, erklärte Elín, »hat er mit dem Mord gewartet, bis sie das Buch fertig hatte. Natürlich hätte sie die Augenoperation, um ihre Brille loszuwerden, nicht durchführen lassen, solange sie noch mit Schreiben beschäftigt war. Vielleicht hat sie die Operation nach Beendigung des Buches ihrem Lover zuliebe machen lassen. Und dann hat er nicht länger gewartet und sich ihrer entledigt. Und das Manuskript wollte er nicht abliefern, sondern als Druckmittel benutzen.«
    »Das Manuskript abliefern?«, fragte Víkingur. »Bei dir? Fühltest du dich denn in irgendeiner Weise berechtigt, es an dich zu nehmen?«
    »Selbstverständlich«, antwortete Elín. »Soweit ich das beurteilen kann, enthält es Dinge, die die Staatsinteressen gefährden.«
    »Du meinst wohl die Regierungsinteressen. Es gibt noch immer einen Unterschied zwischen Staat und Regierung.«
    »Ich hatte nie etwas anderes vor, als das Manuskript durchzusehen und die Autorin dazu zu veranlassen, es zu überarbeiten«, sagte Elín. »Leichen waren nicht vorgesehen, um an das Manuskript zu kommen.«
    »Nein? Aber Täuschung und Betrug, um ein ungedrucktes Werk zensieren zu können, in einem Land, in dem Meinungs- und Pressefreiheit in der Verfassung verankert sind!«
    »Ich weiß sehr wohl, dass es nicht in meiner Macht steht, irgendetwas zu zensieren«, entgegnete Elín. »Aber es kann mir niemand verbieten, meine Überredungskunst oder andere Methoden einzusetzen, wenn ich dahinterkomme, dass jemand mit antisozialen Machenschaften beschäftigt ist.«
    Víkingur schaute die Frau, die so sympathisch und freundlich sein konnte, verwundert an. Sie hatte etwas Elitäres an sich. Offenbar trug sie nicht das Gefühl im Herzen, dass alle Menschen von Geburt an und vor dem Gesetz gleich sind. Für sie war es ganz natürlich und selbstverständlich, dass manche gleicher waren als andere und einen breiteren Zugang zu Befugnissen im Leben hatten. Der Unterschied zwischen solchen Menschen und Verfechtern der Chancengleichheit war noch größer und beunruhigender als der Unterschied zwischen Mann und Frau, der eigentlich
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