Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walkueren

Walkueren

Titel: Walkueren
Autoren: Þráinn Bertelsson
Vom Netzwerk:
bewegte sich nicht. War sie tot? Dann sah er, wie sich ihre Brust hob und senkte.
    Nein. Das war kein Alptraum.
    Er war wach und bei Bewusstsein. Er hatte Kopfschmerzen. So starke Kopfschmerzen konnten kein Traum sein. Er betastete seinen Schädel: eine Riesenbeule prangte am Haaransatz über der Schläfe. Kein Blut. Hatte er beim Sturz aus dem Bett das Bewusstsein verloren? Was hatte er bloß in diesem Bett gemacht? Und wer war diese Frau?
    Er hatte nicht nur Kopfschmerzen, sondern spürte auch eine heftige Übelkeit. Wie nach einer durchzechten Nacht. Hatte er ein Blackout gehabt? Er war noch nie in seinem Leben bis zur Besinnungslosigkeit betrunken gewesen.
    Er krabbelte auf allen vieren. Die Kopfschmerzen waren unerträglich.
    Er merkte, dass man sogar auf allen vieren schwanken konnte.
    Die Frau lebte, war aber bewusstlos.
    Landespolizeichefin Elín!
    Was hatten sie beide in diesem Schlafzimmer verloren? Um wessen Schlafzimmer handelte es sich überhaupt?
    Er kroch zum Fenster und stützte sich auf die Heizung. Dann richtete er sich auf. Er befand sich offensichtlich in einem Wohnblock irgendwo in Álfheimar. Ein Wohnblock in Álfheimar. Freyja Hilmarsdóttir? Nein. Das war nicht ihre Wohnung. Die alte Dame im gegenüberliegenden Wohnblock. War das ihre Wohnung? Wo war dann die alte Frau?
    Was war passiert? Bekomme ich denn keinen klaren Kopf?
    Er taumelte wieder auf Elín zu, diesmal schon auf zwei Beinen, mit unsicheren Schritten. Beugte sich zu ihr hinunter und überzeugte sich davon, dass sie regelmäßig atmete.
    Sie hatte keine sichtbaren Verletzungen.
    Er schüttelte sie. Erst vorsichtig. Dann kräftiger.
    Sie öffnete die Augen. Stieß ihn erschrocken weg und blickte sich um, dann erkannte sie ihn.
    »Du?«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Wo sind wir?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich habe nur eine vage Vermutung.«
    »Hast du schon angerufen?«, fragte sie.
    »Wen denn?«, fragte er.
    »Ach, ich weiß auch nicht«, stöhnte sie. »Irgendjemanden. Irgendwer muss doch was wissen.«
54
Mói und Þorleifur
    Das letzte Mal, als sie im Schritt über den Reitweg durch die Rauðhólar gezockelt waren, war Þorleifur gut und Mói schlecht gelaunt gewesen. Diesmal war es umgekehrt. Mói kaute auf dem Gebiss und reagierte auf jede kleinste Hilfe, aber Þorleifur konnte die sprudelnde Lebensfreude des Pferdes nicht nachempfinden. Der Grund dafür war, dass Þorleifur in den Nächten zuvor sehr schlecht geschlafen hatte – seit jenem wolkenverhangenen Morgen, als Mói und er die Frau in dem Auto entdeckt hatten.
    Seitdem hatte Þorleifur den Reitweg durch die Rauðhólar gemieden. Er war nicht übermäßig ängstlich, aber jenes Ereignis war ihm nicht aus dem Kopf gegangen und hatte ihm Trübsal und Schlafstörungen beschert; wenn es ihm endlich gelungen war, einzuschlafen, spukte die Frau aus dem Wagen urplötzlich wieder durch seinen Kopf.
    Sie sagte nie etwas. Schaute ihn nur an. Und er fühlte sich elend.
    Sie war so jung. Er so alt.
    Sie war tot. Er lebte.
    Fast so, als trage er die Verantwortung für die ganze Welt.
    Heute aber konnte er sich nicht zurückhalten, Mói vom Weg zu lenken, weiter in die Hügel hinein, um in die Senke schauen zu können, wo an jenem gespenstischen Morgen das Auto gestanden hatte. Nur, um sich zu vergewissern, dass es dort nichts mehr zu sehen gab.
    Sein Herz krampfte sich sofort zusammen. Da war ein schwarzes Autodach. Man hatte den Wagen doch nicht etwa dort stehen lassen? Nein, das war unmöglich. Außerdem war es ein anderes Auto, ebenfalls ein schwarzes.
    Ihm wurde schwindelig und flau im Magen, als er den rotbraunen Schlauch sah, der vom Auspuffrohr durch ein Fenster ins Wageninnere führte. Dort drinnen lag etwas.
    Þorleifur bekam kaum noch Luft. Er parierte das Pferd durch und stieg ab. Stand einen Moment wie erstarrt da, holte dann sein Handy heraus und rief die 112 an.
     
    »Tja, mein lieber Mói«, sagte Þorleifur, als sie in einiger Entfernung warteten. »Ist die Welt nicht merkwürdig?«

Quellenhinweise
    Zitat auf Seite 5 von Snorri Sturluson. Deutsche Übersetzung aus: ›Die Edda des Snorri Sturluson.‹ Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause. Philipp Reclam, Leipzig 1947, Stuttgart 1997
     
    Zitate auf den Seite 9 und 61 von Fay Weldon: ›Die Decke des Glücks‹. Aus dem Englischen von Sieglinde Körnstke. Knaur, München 1983
     
    Zitat auf Seite 207 von Fay Weldon. Deutsch von Tina Flecken
     
    Zitat auf Seite 321 von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher