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Waldos Lied (German Edition)

Waldos Lied (German Edition)

Titel: Waldos Lied (German Edition)
Autoren: Petra Gabriel
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— die Folgen eines winzigen Augenblicks begleiten mich bis heute.
     
    Der Gottesdienst zur Weihe der Michaelskapelle war würdig und für meine verkrüppelten Beine um Stunden zu lang, die Luft weihrauchgeschwängert. Danach hatten sich Abt Warinharius und seine erlauchten Besucher über den Hof der Abtei in das Haus für die reichen und mächtigen Gäste begeben. Für die einfachen Leute aus dem Volk gab und gibt es ein zweites, sehr viel schlichteres Gebäude. Das Gästehaus für die Hochgeborenen jedoch ist prächtig ausgestattet, mit kunstvoll geschnitzten Tischen und Bänken und wertvollen, schweren und bestickten Wandbehängen. Sie zeigen Bilder aus dem Leben des heiligen Blasius. Eines gefiel mir immer besonders. Man sieht ihn in einer Gebirgshöhle liegen, umgeben von wilden Bestien wie Bären, Wölfen und vielen anderen, die ihm treu ergeben sind und ihn beschützen. Vor ihm kniet ein Mann, der bei dem heiligen Mann Rat gesucht hat und den er segnet. Auf dem nächsten Bild sind die Schergen des Römers Agricola dargestellt, die den Christen Blasius verfolgen und in den Kerker schleppen. Dort vollbringt er staunenswerte Wunder. Das letzte Bild zeigt den heiligen Blasius, wie er über den See läuft, in dem er eigentlich ertränkt werden sollte. Doch das Wasser umspült nur seine Knöchel. Dafür ertrinken sehr viele seiner heidnischen Henkersknechte aufs jämmerlichste unter grotesken Verrenkungen. Sie hatten es ihm im Vertrauen auf die Kraft ihrer eigenen Götter gleichtun wollen.
     
    Hier also gab Abt Warinharius ein Festessen für den Bischof, den Herzog, seine Gemahlin, die Ritter seines Gefolges und die höhergestellten unter seinen Vasallen, die selbst noch Lehensleute hatten.
    Die niederen Diener im Tross des Herzogs durften daran allerdings nicht teilnehmen. Sie wurden im hölzernen Haus für die Pilger, die Armen und die Kranken bewirtet. Zu ihnen gesellten sich einige Hintersassen und Bauern, mit denen Abt Warinharius eng zusammenarbeitete. Das übrige Volk feierte draußen in der feuchten Kälte, in Matsch und einsetzendem Schneeregen. Durch den nächtlichen Sturm war es inzwischen sehr viel wärmer geworden. Die Oberfläche des gefrorenen Bodens hatte sich mittlerweile unter den vielen Füßen in einen Morast verwandelt, in dem die Menschen fast knöcheltief versanken. Abt Warinharius wird das nicht ohne eine gewisse innere Zufriedenheit gesehen haben. »Wenn das einfache Volk draußen feiert, dann essen und trinken die Menschen nicht zuviel, weil sie frieren«, hatte er nämlich erst am Tag zuvor erklärt und schnell hinzugefügt: »Zuviel feiern schadet ihren einfachen, kindlichen Seelen und führt sie auf den Weg der Sünde.«
    Der geistliche Hüter der jungen und aufstrebenden Abtei St. Blasien war eben nicht nur gütig, hilfsbereit und voller Nächstenliebe, sondern auch sehr sparsam. Alles, was die Hintersassen erwirtschafteten und was er nicht für die Versorgung der Mönche, der Armen und der Kranken benötigte, nutzte er, um die Ehre, die Größe und den Reichtum der Abtei zu mehren. Eifrig war er auch darauf bedacht, den Abbau von Silbererz bei Brenden und Urberg zu steigern, das einen erheblichen Gewinn einbrachte. Ohne das Erz wäre der Bau der großen, steinernen Basilika, die ich so liebte, kaum möglich gewesen. Ich wusste all dies durch meine Arbeit im Scriptorium. Doch auch die Waldwirtschaft brachte erhebliche Einnahmen. Und die Konversen, die Brudermönche, die außerhalb der Klostergemeinschaft in kleinen Zellen lebten, arbeiteten ebenfalls hart. Ihre Aufgabe war es, zusammen mit Bauern aus der Umgebung und Hintersassen für die Abtei Land zu roden und es für die Bewirtschaftung oder als Viehweide urbar zu machen.
    Mir blieb dieses Schicksal aufgrund meiner Missbildungen glücklicherweise erspart. Damit ich für die Gemeinschaft dennoch irgendwie nützlich wurde, war ich schon bald nach meiner Ankunft zur Arbeit im Scriptorium bestimmt worden. So lernte ich nicht nur lesen und schreiben, sondern bekam auch Zugang zu Abschriften der Werke von großen Dichtern wie Vergil oder Horaz. Sie beflügelten die Phantasie meiner Jugend und bescherten mir Träume von Heldentum und lieblichen Frauen.
    Während des Empfangs des Abts für den Bischof von Basel und den Herzog war es meine Pflicht, trotz meiner verkrüppelten Beine bei der Bewirtung der Gäste zu helfen. Ich musste allerdings keine schweren Holzplatten herumreichen, auf denen die Speisen angerichtet waren: gefüllte
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