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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Autoren: Jodi Picoult
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schmales Gesicht, das durch ihre rosa randlose Brille noch betont wird, und sie ist Auftritte im Zeugenstand gewohnt. »Dr. Rebbard«, beginnt Emma, »wie arbeitet unser Gedächtnis?«
    »Das Gehirn kann sich nicht an alles erinnern«, sagt sie. »Es hat einfach nicht die notwendige Speicherkapazität. Wir vergessen das meiste, was wir erleben, auch Ereignisse, die zum damaligen Zeitpunkt vermutlich bedeutsam waren. Die Dinge, die hingegen haften bleiben, sind nicht etwa vergleichbar mit Bildern auf einem Videoband. Nur minimale Informationsbits werden abgespeichert, und wenn wir uns erinnern, schmückt unser Verstand die Erinnerung automatisch mit erfundenen Details aus, die auf früheren ähnlichen Erfahrungen beruhen. Erinnerung ist eine Rekonstruktion.
    Sie wird durch Stimmungen und Umstände und zahllose andere Faktoren verfälscht.«
    »Dann kann sich eine Erinnerung im Lauf der Zeit verändern?«
    »Das ist sogar höchstwahrscheinlich. Aber interessanterweise haben die Mutationen offenbar Bestand. Verzerrungen werden zum integralen Teil der Erinnerung, wenn sie später wieder abgerufen wird.«
    »Dann sind also manche Erinnerungen richtig, während andere falsch sein können?« fragt Emma.
    »Ja. Und manche sind eine Mischung aus Büchern, die wir gelesen, oder Filmen, die wir gesehen haben. Eine meiner Studien beschäftigte sich beispielsweise mit Kindern einer Schule, die von einem Heckenschützen beschossen worden war. Selbst die Kinder, die zum Zeitpunkt des Geschehens nicht auf dem Schulgelände waren, konnten sich an den Angriff erinnern ... eine falsche Erinnerung, die vermutlich durch die Geschichten inspiriert wurde, die sie von Freunden und in den Nachrichten gehört hatten.«
    »Dr. Rebbard, herrscht in Fachkreisen Übereinstimmung darüber, wann ein Kind fähig ist, sich an traumatische Erlebnisse zu erinnern?« fragt Emma.
    »Im allgemeinen geht man davon aus, daß Erlebnisse aus den ersten beiden Lebensjahren nicht mehr erinnerbar sind. Erinnerungen vor dem vierten Lebensjahr sind selten und unzuverlässig. Die meisten Fachleute sind der Überzeugung, daß schwerer Mißbrauch ab dem Alter von vier Jahren auch bis ins Erwachsenenalter erinnert wird.«
    »Delia Hopkins hat keine psychologische Hilfe gesucht, erlebt aber wiedergewonnene Erinnerungen«, stellt Emma fest. »Erstaunt Sie das?«
    »Nicht nach dem, was ich über den Fall weiß«, antwortet Dr. Rebbard. »Durch die Vorbereitung auf den Prozeß und die Aussage selbst war sie gezwungen, hypothetische Szenarien zu durchleben. Sie fragt sich, warum ihr Vater mit ihr geflohen ist und ob es in ihrer Vergangenheit irgend etwas gibt, das der Auslöser dafür war. Es ist unmöglich feststellbar, ob sie sich tatsächlich an diese Dinge erinnert oder ob sie sich nur daran erinnern will. In jedem Fall würde eine Phase in ihrem Leben erklärt, die sie nicht versteht, und es würde höchstwahrscheinlich das Tun ihres Vaters rechtfertigen.«
    »Ich möchte gern auf die Erinnerungen eingehen, die Ms. Hopkins nach eigener Aussage wiedergefunden hat«, sagt Emma, und ich springe von meinem Stuhl auf.
    »Einspruch«, sage ich. »Euer Ehren, es geht hier allein um die Zulässigkeit der Beweise. Es wäre verfrüht, die Sachverständige der Anklage über die Verläßlichkeit der Erinnerungen urteilen zu lassen, ohne daß sie die eigentliche Aussage der Zeugin zu diesen Erinnerungen und ihren Erfahrungen gehört hat.« Ihr müßt meine Beweise erst mal zulassen.
    Richter Noble blickt mich über seine Lesebrille hinweg an. »Ist Ms. Hopkins hier, um ihre Aussage zu machen?«
    Nein, weil sie nämlich kaum noch ein Wort mit mir spricht.
    »Heute nicht, Euer Ehren«, sage ich.
    »Tja, mein Sohn, das ist dann Ihr Problem. Wir werden Ihr Beweisangebot für eine eventuelle Aussage vor den Geschworenen prüfen, und Ms. Wasserstein darf mit der Vernehmung fortfahren.«
    Emma tritt an den Zeugenstand. »In der ersten vermeintlichen Erinnerung«, sagt sie, »sieht Ms. Hopkins, daß Mr. Vasquez Boxershorts mit aufgedruckten Fischen trägt. In der zweiten kommt Mr. Vasquez nachts in ihr Kinderzimmer und streichelt ihr den Rücken. In der dritten fordert er sie auf, sich die Unterhose auszuziehen und sich selbst anzufassen. Ist das Ihrer Meinung nach überzeugendes Beweismaterial?«
    »Es kommt oft vor, daß sich ein Klient mit einigen wenigen zusammenhanglosen traumatischen Bildern, quasi Ausschnitten, an einen Therapeuten wendet. Das bezeichnen wir als beeinträchtigte
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