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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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Gras hinunterrutschte, wobei ihm ein Karton aus den Händen glitt, dessen Inhalt sich über die Wiese entleerte   – darunter zwei Flaschen Rosé-Champagner, die jetzt weiter den Hügel hinunterrollten.
    Er hatte sich nicht verletzt, obwohl Clare sekundenschnell der Gedanke durchfuhr: Hat er sich ein Bein gebrochen, einen Arm, das Fußgelenk? Sollte ihnen dieser ganze, sich so wunderbar anlassende Sonntag jetzt doch nicht vergönnt sein? Nein, zum Glück hatte Toby lediglich zur Unterhaltung beigetragen und alle zum Lachen gebracht, was er, nachdem er wieder auf die Füße gekommen war, mit einer theatralischen Verneigung eingestand. Es war einer dieser Augenblicke, in denen sich eine potenzielle Katastrophe augenblicklich zur Komödie wandelte, ein unverhoffter Segen. Gerade als ihr Mann stolperte und ins Rutschen geriet und sein kurzärmliges Hemd hochflog, hatte Clare den weichen Bauchspeck über dem Hosenbund seiner Shorts gesehen sowie, als ihm sein Strohhut vom Kopf flog, ein Stück glänzender, kahler Kopfhaut, wo ihm die Haare ausgingen und die Sonne sich spiegelte. Irgendwie hatte dieser Anblick   – von rosafarbener, verletzlicher Haut   – beruhigend gewirkt.Ja, sie wusste, dass sie ihren Mann liebte. Auf keinen Fall wollte sie ihn verlieren, es durfte nicht sein. Er kam ihr in diesem Moment wie ihr großes viertes Kind vor.
    Und während sich die tatsächlichen Kinder auf der Wiese vor Lachen kugelten, machte er, wie ein gemieteter Clown, ein Spektakel daraus, die runtergefallenen Dinge aufzulesen, und erklärte, dass der Champagner nun umso kräftiger perlen würde. Was war er doch für ein liebenswerter Dummkopf! Wie hatte er es nur zum Banker gebracht? Dies hier war, wurde ihr mit übervollem Herzen bewusst, der vollendete Augenblick, die vollendete Umgebung. Doch nur wenige Minuten später sah sie zu dem breiten, sonnendurchschienenen Laubdach der Eiche hinauf, als suchte sie dort eine Bestätigung für ihr Glücksgefühl (was für eine prächtige Eiche   – und sie gehörte ihnen!), und hatte das Empfinden, dass irgendetwas ganz falsch war.
    Was war denn los? Ein Picknick sollte anfangen, mehr nicht. Ein glückliches Picknick, von fröhlichem Lachen und, in diesem Moment, dem lauten Knallen eines Champagnerkorkens eingeleitet. Alles war gerichtet, aber wie so oft, wenn erst alle Vorbereitungen getroffen sind, kamen die Kinder, trotz der vorausgegangenen Ungeduld, jetzt nur langsam herbei. Doch auch das war unerheblich. Was war also los? Charlie hatte Laura Townsend das Loch im Baum gezeigt, das »Loch des verrückten Bullen«   – und Laura hatte beschlossen, ihren Finger hineinzustecken. Das war alles. Clare selbst hatte das nie getan   – irgendwie hatte sie das Gefühl gehabt, dass in dem Loch etwas sein könnte, was sie nicht gern berührenwürde. Aber was war so schrecklich an dem kleinen, natürlichen und kindlichen Wunsch, den Finger in das Loch zu stecken?
    Dennoch, sie blickte zu der Eiche hinauf und hatte sofort Angst davor. Irgendetwas war jetzt daran, dass sie selbst an diesem warmen Julitag frösteln musste. Die in der Brise sich regenden Blätter schienen mit ihr zu erschaudern. Der Schatten, der an einem Sommertag freundliche Kühle spendete, schien einen Moment lang einfach nur dunkel.
    Sie verdrängte all dies, versuchte es wegzuschieben, während das Picknick seinen Verlauf nahm, und erwähnte es auch später mit keinem Wort gegenüber ihrem Mann. In Wahrheit aber dauerte es fast den ganzen Sommer, bis dieser »Augenblick« verging. Sie wappnete sich gegen eine Wiederholung. Sie musterte den Baum, als würden sie und der Baum einander trotzen. Sie war sich jetzt nicht mehr sicher, ob nicht doch etwas unheimlich und gar nicht prachtvoll daran war, wie der Baum die Aussicht dominierte und sein Wipfel über die Kante des Feldes ragte, als wäre es der Kopf eines Riesen, der etwas gegen das Haus ausheckte. Sie stellte sich vor, wie er nachts über allem lauerte. Doch langsam verblasste dies so weit, dass sie sich fragte, ob sie sich das alles nicht bloß eingebildet hatte.
     
    Als Jack (mit Ellies Beratung) den Robinsons das Haus der Jebb Farm und das Barton Field verkaufte, wurde das Loch im Baum nicht erwähnt. Jack hatte sogar daran gedacht, es zu füllen und damit zu kaschieren, aber ihm war klar, dass dies übertrieben war. Das Loch musste bleiben.Für jeden anderen war es einfach ein unbedeutendes Loch im Baum. Auch über die Art und Weise, wie Michael gestorben war,
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